Auftritt
Heidelberg: Zerrissenes Land
Theater und Orchester Heidelberg: „Die Beleidigten. Belarus(sland)“ (DSE) von Andrej Kurejtschik. Texteinrichtung Jürgen Popig, Video Hanna Green
von Björn Hayer
Erschienen in: Theater der Zeit: Elektro-Theater – Der virtuelle Raum (04/2021)
Assoziationen: Theater und Orchester Heidelberg
Diktatoren hassen das Theater – insbesondere, wenn es sich auch noch als unabhängig, gar kritisch gebärdet. Passenderweise beginnt die szenische Lesung von Andrej Kurejtschiks Stück „Die Beleidigten. Belarus(sland)“ genau mit dieser Schmähkritik aus dem Mund von vielleicht Europas letztem Usurpator Alexander Lukaschenko. Gespielt wird der seit 1994 amtierende Präsident des titelgebenden Staates von Christina Rubruck. Am Rednerpult stehend, geißelt sie die Verlogenheit des Schauspiels, währenddessen sie sich mithilfe eines Handspiegels einen Schnauzer aufmalt. Ironischer, schlagkräftiger könnte der Beginn dieser Gesellschafts- und Funktionärsanklage gar nicht ausfallen. Ließ sich der belarussische Regierungschef noch vor Kurzem in sportlicher Pose beim Skifahren mit Wladimir Putin ablichten, so durchkreuzt die Inszenierung von Anfang an sämtliche Männlichkeitsklischees. Der Autokrat mag den starken Max mimen, als Frau mit Make-up scheint der Macho zumindest auf der Bühne machtpolitisch kastriert zu sein.
Doch der 1980 in Minsk geborene Schriftsteller ruht sich nicht auf einer Karikatur des umstrittenen Präsidenten aus, sondern zeigt ein breites Panorama eines zerrissenen Volkes. Auf der einen Seite stehen natürlich die Getreuen: eine Lehrerin, verkörpert von Katharina Quast, wettert neben einem weißen Flipchart gegen Wahlen, die ohnehin nur Instabilität schüfen. Derweil klopft ein Söldner (Steffen Gangloff) populistische Sprüche, wünscht „den Fremden den Tod“, hetzt gegen das „Majdan-Gesindel“ sowie den „schwulen Europa-Scheiß“. Dass er dabei vor einer verschneiten Stadtkulisse sitzt, ist ein kluger inszenatorischer Einfall. Denn den Unrechtsstaat zu verteidigen, setzt scheinbar einiges an Verdrängungspotenzial voraus. Das Weiß des Schnees soll alle befrieden.
Den Regime-Akteuren gegenüber steht die Präsidentschaftskandidatin Swetlana Tichanowskaja (Lisa Förster), die von einem freien Land träumt, sowie die sogenannte „Leiche“ (Daniel Friedl), die sich als ein Opfer der tyrannischen Staatslenkung erweist. „Lasst uns die Mauern niederreißen“, ruft sie, Inbegriff des erlösungsbedürftigen Untoten, uns entgegen.
Dass die Bruchlinien nicht kerzengerade durch die Bevölkerung verlaufen, wird deutlich, sobald die Verflechtungen der Figuren sichtbar werden. Vor allem dort, wo persönliche Verbundenheit politische Gräben überwindet, zeigt sich die Mehrdimensionalität der Protagonisten, die eben nicht dem Reißbrett entsprungen sind. Und noch ein Zweites verknüpft die stets zum Publikum sprechenden Antagonisten, nämlich der Text selbst. Obwohl die einzelnen Szenen durch harte Schnitte (Video Hanna Green) beendet oder eingeleitet werden, stellt Kurejtschik immer wieder gern sarkastische Analogien her. Nachdem der Söldner von „Lippen …, die wie Fahrradschläuche“ ausgesehen haben sollen, schwärmt und Frauen zu Sexobjekten degradiert, widmet sich Tichanowskaja der Zubereitung von „faschierte(n) Laibchen“ – eine so amüsante wie pointierte Farce auf ein menschenverachtendes System, das in allen und jedem nur ein Stück austauschbares Fleisch sieht. Hinzu kommt noch die sprachliche Nähe zum Begriff Faschismus, dessen Politik sich ja vor allem in der strengen Disziplinierung und Ideologisierung des Körpers niederschlägt.
Andrej Kurejtschiks von Georg Dox ins Deutsche übersetzter und von Heidelbergs Chefdramaturg Jürgen Popig eingerichteter Text überzeugt somit durch seinen Anspielungsreichtum und seine mithin vielschichtige Sprachkomposition. Wird dieser Qualität auch die szenische Einrichtung gerecht, mit der das Stück seine deutschsprachige Erstaufführung erlebt? Gewiss hätte das Theater Heidelberg etwas mehr Verve bei der Entwicklung von Bühnenbild und Spiel an den Tag legen können, aber durch die Zurückhaltung wirkt das Wort umso stärker. In ihm äußert sich politischer Widerstand, keimt also jeder Beginn einer Revolution. Das Theater lässt in dem abgebildeten Gesellschaftsporträt somit dem Autor den Vortritt. Da es in Belarus kaum Raum für eine oppositionelle Kunst geben dürfte, ist dieser Zug schließlich nicht nur generös, sondern würdevoll und respektabel. //