Theater der Zeit

Woke Wut

von Bernd Stegemann

Erschienen in: Wendungen: Wutkultur (08/2021)

Linke Identitätspolitik etabliert im Gegensatz zur rechten eine komplizierte Wutkultur. Sie muss die Thymos-Spannung der Opfer hochhalten und immer wieder neu entfachen. Zugleich muss sie die wütenden Reaktionen der Mehrheitsgesellschaft abwehren, indem sie diese wie in einer japanischen Kampftechnik auf sie selbst zurückwendet. So erklärt sich, warum sich beide Identitätspolitiken gegenseitig befeuern. Die rechte Wut wird nicht als Ausdruck sozialer Probleme ernstgenommen, sondern soll vor allem eine Gefahr für linke Identitäten sein.20 Rechte Wut wird zum individuellen Charakterfehler erklärt, während linksidentitäre Wut Ausdruck der falschen Verhältnisse ist. Mit diesem doppelten Standard werden permanent neue Konflikte produziert. Denn es werden nicht nur alle nicht-linksidentitären Wutkollektive provoziert, sondern es wird ebenso der Universalismus und Gleichheitsanspruch der bürgerlichen Milieus bekämpft.

Um in diesem Wechselspiel Sieger zu bleiben, wendet die linke Identitätspolitik ihre Paradoxien immer radikaler an. Jeder Versuch, auch die rechte Wut als Teil des politischen Spektrums zu verstehen, wird kategorisch abgelehnt. Wer die „Sorgen der Bürger“ ernst nehmen will, macht sich in ihren Augen bereits verdächtig. Der einfache Grund, warum linke Identitätspolitik ihre doppelten Standards so vehement durchsetzen will, besteht in ihrem politischen Machtanspruch. Würde die Wut der „weißen Menschen“ nicht als Beweis ihrer Schuld angesehen, sondern als verstehbares Aufbegehren anerkannt,...

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