Auftritt
Theater Hagen: Faszinierende Tschechow-Essenz
„Tri Sestry (Drei Schwestern)“ von Peter Eötvös und Claus H. Henneberg nach Anton Tschechow – Musikalische Leitung Joseph Trafton, Ko-Dirigent Taepyeong Kwak, Inszenierung Friederike Blum, Bühne und Kostüme Tassilo Tesche
von Stefan Keim
Assoziationen: Nordrhein-Westfalen Musiktheater Theaterkritiken Theater Hagen

Peter Eötvös ging aufs Ganze, als er Ende der neunziger Jahre seine erste große Oper komponierte. 13 Gesangssolisten, darunter drei Countertenöre in den Titelpartien als die „Drei Schwestern“, zwei Orchester, eins im Graben, eins hinter der Bühne. Das stemmt kein Musiktheater nebenbei, jede Aufführung der „Tri Sestry“ ist ein Wagnis. Zumal Eötvös und Co-Librettist Claus H. Henneberg nicht einfach Tschechows berühmtes Theaterstück nacherzählen. Sie haben es auf seinen Kern konzentriert, auf die Träume und die Apathie, die Sehnsucht und Verlorenheit. Die Oper verlangt eine Menge Konzentration vom Publikum. Doch jede Mühe lohnt sich.
Am Anfang ein leises Akkordeon. Olga, Mascha und Irina, Tschechows „drei Schwestern“, singen den Satz „Die Töne der Musik sind so heiter“ auf Russisch. Dabei stimmt das gar nicht. Gleich zu Beginn herrscht der Grundton des Stücks, leise feinsinnige Melancholie. Gespenstisch wirkt das Frauentrio, Wiedergängerinnen der Sehnsucht. Auf die Besetzung mit Countertenören hat das Theater Hagen verzichtet, wie schon manche größere Bühne davor. Aber das ist der einzige Kompromiss.
Die Geschichte wird nicht linear erzählt. Nach dem Prolog gibt es drei Sequenzen. Irina, die jüngste, findet sich zwischen zwei Freiern und entscheidet sich für den Offizier Tusenbach, der im Duell getötet wird. Im zweiten Teil steht nicht Olga im Mittelpunkt, denn die hat laut Peter Eötvös keine Träume, sie ist die Realistin im Schwesterntrio. Deshalb beschäftigt er sich mit Andrej, dem Bruder, im Beruf gescheitert, unterwürfig gegenüber seiner Gattin. Bariton Kenneth Mattice hat ein großes Solo, in dem er sich über seine traurige Gegenwart beklagt. Nur wenn er sie mit der noch schlimmeren Zukunft vergleicht, kommt sie ihm fast erträglich vor.
Die dritte Sequenz erzählt danach, wie sich Mascha in den Oberst Werschinin verliebt, ihren Gatten demütigt und vom Offizier verlassen wird. Die Musik von Peter Eötvös ist unentrinnbar dicht, komplex, anspruchsvoll - und gleichzeitig nachvollziehbar und verständlich. Glissandi gehen über in Koloraturen, Melodien schälen sich heraus, ohne zu Arien zu werden. Das Philharmonische Orchester Hagen spielt auf der Bühne, das auf zeitgenössische Musik spezialisierte Ensemble Musikfabrik im Graben. Die beiden Dirigenten Joseph Trafton und Taepyeong Kwak leisten Außerordentliches, scheinbar mühelos entfaltet sich ein musikalischer Sog.
Die Inszenierung dieser Oper ist eine sehr anspruchsvolle Aufgabe. Sie muss konkret genug sein, damit die Figuren plastisch werden, darf aber nie zu sehr mit dem Realismus flirten. Denn es geht ausschließlich um menschliche Innenwelten. Die Regisseurin Friedrike Blum findet in Hagen faszinierende Bilder. Ausstatter Tassilo Tesche begrenzt die Bühne durch mehrere große Spiegel. Dadurch wird der Blick des Publikums mehrfach gebrochen. Er versteckt das Orchester auf der Bühne nicht, sondern lässt es mit dem Rücken zum Publikum sichtbar spielen. Die Kostüme sind so zeitlos wie die Figuren, Peter Eötvös hat die Tschechow-Charaktere aus ihrer historischen Verortung gelöst. Dadurch werden sie schneller fassbar, zumal das mit vielen Gästen ergänzte Hagener Ensemble ausgezeichnet spielt und singt. Dorothea Brandt als Irina, Maria Markina als Mascha, Lucie Ceralová als Olga und auch Vera Ivanovic als dominante Natascha zeigen selbstbewusste Frauen, die sich fragen, ob die ersehnte Zukunft das Leiden in der Gegenwart wert ist. Sie haben keine Wahl, weil sie hoffen, auf Moskau, die Liebe, was auch immer. 105 Minuten dauert die Aufführung, eine Tschechow-Essenz, sinnlich und sezierend, gnadenlos und genau. Eine große Leistung des Hagener Theaters.
Erschienen am 4.4.2023