Theater der Zeit

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Auftritt

Schauspiel Stuttgart: Was witzig ist und was nicht

„Die Erfindung“ von Clemens J. Setz (UA) – Regie Lukas Holzhausen, Bühne Jane Zandonai, Kostüme Annabelle Gotha, Musik Robert Pawliczek

von Otto Paul Burkhardt

Assoziationen: Dramatik Baden-Württemberg Theaterkritiken Dossier: Uraufführungen Clemens J. Setz Schauspiel Stuttgart

Katharina Hauter und Marco Massafra in „Die Erfindung“ von Clemens Setz in der Regie von Lukas Holzhausen am Schauspiel Stuttgart. Foto Björn Klein
Katharina Hauter und Marco Massafra in „Die Erfindung“ von Clemens Setz in der Regie von Lukas Holzhausen am Schauspiel StuttgartFoto: Björn Klein

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Schon wieder eine schlaflose Nacht. Das junge Paar C und S schreckt im Bett hoch – aus der Wohnung darüber dringt Lärm. Ziemlich spooky: Gebrüll, dumpfe Schläge, Schmerzensschreie. Kam schon öfter vor. Was tun? Hochgehen, zur Rede stellen? Derlei direkte Kommunikation wollen C und S nicht. Mehr Spaß macht es, Rachemethoden auszudenken. Schnee in den Kragen kippen? Hm. Motorsäge – dass hinterher alles tropft? Albern. C ist geistig längst auf wesentlich brutaleren Gewalt-Levels unterwegs. Und plaudert über seine momentane Lieblingslektüre, einem Buchpreis-nominierten Splatterroman namens „Wormed“. Ein Mathelehrer betreibe da im Darknet einen Versandhandel mit Frauen, denen er Arme und Beine abgeschnitten hat. „Wieso liest du sowas?“, fragt Partnerin S geschockt. Egal, die Lust am offensichtlichen Trash überwiegt, und gemeinsam mit Kumpel Manfred bastelt das Paar prompt eine Website mit Onlineshop für derlei Torsi, inklusive Bestellbutton und Kommentarfunktion. Nur so zum Spaß, versteht sich. Das Echo ist riesig, jagt selbst dem Macher-Trio Schauer über den Rücken. Und sät Misstrauen: Ein paar Zuschriften scheinen gefaked. Das Jux-Projekt läuft aus dem Ruder, Fiktives und Reales verknäueln sich untrennbar.

Jede(r) im Publikum sortiert sich: Amüsiert oder angewidert? Nervenkitzel oder Abscheu? So ganz ohne Triggerwarnung testet Clemens J. Setz in seinem neuen Stück „Die Erfindung“, einem 100-Minuten-Ausflug ins Darknet, wieder mal psychogene Grenzbereiche aus, leuchtet gnadenlos ins zappendustere Niemandsland zwischen skurril und pathologisch. Es ist sein mittlerweile drittes Auftragsstück fürs Schauspiel Stuttgart.

Regisseur Lukas Holzhausen steuert bei der Uraufführung im Kammertheater definitiv unaufgeregt durch diesen Horrortrip. Inszeniert die Albtraum-Farce als Konversationsstück. Kein Blut, nirgends. Alles Fantasy. Das Paar trägt weiche, kuschelige Sachen wie in der Waschmittel-Werbung. C, bei Marco Massafra ein Intellektueller, der seine Leselust als Splatter-Aficionado durch elaboriertes Problembewusstsein entdämonisiert, ähnelt mit Brille und Eremitenbart verdammt dem Autor des Stücks. Katharina Hauters S mischt nach auffällig schnell verflogenen moralischen Anfangsbedenken („sowas war für den Buchpreis nominiert?“) bald höchst aktiv am Spaßprojekt mit. Vollends schräge Komik vermittelt Michael Stiller als Manfred, der als groovender, drogenaffiner IT-Nerd die Website perfekt designt hat.

Schon im Look der Figur C lässt die Regie die diskret eingestreute Setz-Selbstironie aufblitzen. Auch bei den Figurenkürzeln C und S liegt die Frage nahe: Ist das Stück ein Gespräch des Autors mit sich selbst? Die abstrusen Fantasien werden, wie zur Gesichtswahrung, vom Trio zwar als „ziemlich heavy“ und „krankes Zeug“ diagnostiziert und einem womöglich frauenhassenden Verfasser – „Österreicher halt“ – zugeschrieben: Als virtueller Streich, „als Prank“, werden sie dennoch aufgegriffen. Massafras C ist dabei ein begnadeter Verharmloser, der in dem inspirierenden Schauerroman um verhökerte weibliche Rümpfe gar Slapstickhaftes und Tröstliches entdeckt. Selbst der benebelte Manfred sieht da klarer: „Klingt aber trotzdem ungesund“. Und Hauters S verliert stellenweise den Überblick, „was witzig ist und was nicht“. In Holzhausens cooler Dialogregie wirkt vieles umso grotesker: Etwa, wenn die Drei brav über die „allgemeine Verrohung“ diskutieren und dann fasziniert in ihrem eigenen Onlineshop für Opfer-Torsi den Post-Verkehr begutachten.

Das Unheimliche schwebt in Holzhausens Regie ständig im Raum, gerade durch die Abwesenheit von Illustrationen. Allenfalls fällt da im schicken Wohnambiente des Paars ein wandbreites Aquarium mit zwei einsam dümpelnden Fischen auf, in dem ein grusliges Wurzelgeflecht mit langen, schaurigen Schlangenarmen ruht – ein bizarres Etwas irgendwo zwischen Krake, Medusenhaupt und anatomischem Präparat.  

Holzhausen zeigt das Unheimliche im krassen Gap zwischen dem scheinbar reflektiert-aufgeklärten Parlando des Trios und seinem auch als Joke unsäglichen Versandhandel. Dialogisch fein ziseliert unterstellen sich die Drei gegenseitig, Teile des Website-Traffics gefälscht zu haben. C gesteht Schwindeleien bei der Nacherzählung des Romans, entschuldigt sie als „Fan-Fiction“. S rächt sich ihrerseits mit einer erfundenen Geschichte, die C berühren sollte. Und die letzten Gewissheiten – im Stock darüber herrscht reale Gewalt, hier unten „nur“ Darknet-Fantasy – lösen sich auf: Denn die Drei streiten selbst immer lauter. So laut, dass jemand von oben, wo es längst wieder ruhig ist, runterkommt und sie bittet, einfach ein „bisschen leiser“ zu sein. Die Verhältnisse haben sich umgekehrt.

Nachdem C und S alle „Wormed“-Romane im Abfall entsorgt haben, fischt im Setz-Original ausgerechnet ein Junge von oben eins der Bücher aus dem Müll. Setz zitiert damit eine gängige Schlussformel des Genres: Das Grauen geht weiter. Holzhausen verfremdet diese Szene und beendet den Horrortrip mit einem sehr graziösen, sehr gespenstischen Versöhnungskuss von C und S.

Sicher, nicht alle Fährten finden zueinander: Die „misogyne Zumutung“ des Plots bleibt dann doch ein Elefant im Raum, die zweisame Einsamkeit des Paars und der angedeutete Kinderwunsch von S wirken wie aufgesetzte Zutaten. Dennoch, Setz’ Thriller erkundet Abgründe und leuchtet, je nach Genre-„Vorbildung“ des Publikums, ganz verschiedene Echoräume zwischen Ekel und makabrem Witz aus. Die Regie erzielt Gruselkomik, in dem sie kühl, schnörkellos, ohne behauptete Dringlichkeit zu Werke geht. Auch schauspielerisch geht das auf, da im scheinbar Beiläufigen, Unspektakulären viel mehr aufscheinen kann. Und weil das Stück wieder so vielschichtig schillernd und intertextuell bezugsreich gebaut ist, lässt man dem Autor Setz eben auch dieses gefährliche Spiel mit dem Horror durchgehen.

Erschienen am 9.5.2025

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