Zur Frage der Maßstäbe bei der Beurteilung der Schauspielkunst
Quelle 15
von Bertolt Brecht
Erschienen in: Lektionen 3: Schauspielen Theorie (12/2010)
Assoziationen: Theatergeschichte Schauspiel
Unter denen, die der als episch angekündigten Aufführung des Stückes „Mann ist Mann“ im Staatstheater mit Interesse folgten, herrschte ein Konflikt der Meinungen über die Leistung des Schauspielers Lorre, der die Hauptrolle spielte. Die einen fanden seine Art zu spielen von den neueren Gesichtspunkten aus betrachtet besonders richtig, ja beispielgebend, die anderen verwarfen sie ganz und gar. Ich selbst gehöre zu der ersten Gruppe. Um der Frage den prinzipiellen Rang, der ihr zukommt, zu erhalten, möchte ich als Augenzeuge aller Proben zuerst versichern, daß es keineswegs bloße Mängel in der Begabung des Schauspielers waren, die sein Spiel für einige so enttäuschend machten: wer bei der Aufführung an ihm etwa „die Kraft des tragenden Schauspielers“ oder „die Fähigkeit, klar auf Sinn zu sprechen“ vermißte, der hätte bei den ersten Proben die Fähigkeit dazu leicht feststellen können. Wenn diese bisherigen Kennzeichen eines großen, befähigten Schauspielers bei der Aufführung zurücktreten, um, meiner Meinung nach, anderen Kennzeichen, nämlich denen einer neuen Schauspielkunst, zu weichen, so war dies das beabsichtigte Ergebnis der Probenarbeit, und diese also, nichts anderes, steht zur Beurteilung und ist der Grund der Meinungsverschiedenheiten.
Um eine ganz bestimmte Frage, nämlich die, wie weit gewisse allgemein als gültig angesehene Maßstäbe durch eine Umwälzung...