Auftritt
Berlin: Das unheimliche Spektakel
Belgienhalle Gartenfeld: „Die letzten Tage der Menschheit“ von Karl Kraus. Regie und Ausstattung Paulus Manker, Kostüme Aleksandra Kica
Erschienen in: Theater der Zeit: Angst und Widerstand – Thema Afghanistan (10/2021)
Um 18:09 Uhr beginnt die Maschine zu rollen. Durch die geöffneten Tore der Belgienhalle in der Berliner Siemensstadt schiebt sich majestätisch und monströs zugleich ein stählerner Eisenbahnwaggon mit gerüstartigem Aufbau. Lichtkegel durchstechen die Szenerie, als suchten sie am Hallenhimmel nach feindlichen Fliegern, kraftprotzend untermalt von den ersten Takten aus Richard Strauss’ „Zarathustra“-Sinfonie. Eine Welt entsteht. Eine Welt vergeht. Was für ein Spektakel.
Es liegt in der Natur der Aufmerksamkeitsökonomie des Menschen, dass speziell jene Ereignisse eine erhöhte Beachtung finden, die jenseits von Kategorien wie Machbarkeit und Risikoabwägung operieren. Paulus Mankers Inszenierung von Karl Kraus’ Monumentalwerk „Die letzten Tage der Menschheit“ ist ein solches Ereignis. Vom Autor selbst als extraterrestrisches „Marstheater“ tituliert, ist das Stück, das sich in 220 grell collagierten Szenen und im schnellen Wechsel von 1114 Figuren mit der Anbahnung und dem Verlauf des Ersten Weltkriegs befasst, nicht gerade ein Renner im gängigen Theaterkanon-Repertoire, wobei es nicht nur die schiere Dimension war, die sogar Kraus vor einer szenischen Umsetzung zurückschrecken ließ. Er fürchtete schlicht das „Zurücktreten des geistigen Inhalts vor der stofflichen Sensation“.
Diese Weissagung des Autors wird einem zu Beginn des siebeneinhalbstündigen Höllenritts durch den Krieg immer wieder durch den Kopf geistern, wenn an einem verstört lächelnde Zuschauer vorbeirasen, die wie auf dem Rummel von historisch gekleidetenRikscha-Fahrern durch die riesige Halle kutschiert werden, während um sie herum 17 Schauspielerinnen und Schauspieler in einer groß angelegten Straßenszene den Schock über die Ermordung des österreichischen Thronfolger-Ehepaars in Sarajevo reinszenieren. Es ist ein riesiger, megalomanischer Budenzauber, der hier veranstaltet wird, was die Inszenierung, ob man nun will oder nicht, auf widersprüchliche Weise interessant macht.
Nahezu an jedem Ort der weitläufigen Industriekathedrale, die 1917 als Kriegsbeute aus der nordfranzösischen Stadt Valenciennes abtransportiert wurde, wird an diesem Abend gespielt. Rechts und links des eigens verlegten Bahngleises befinden sich ein Krankenhaus, eine Küche, ein Waschsalon, das Café Serbia und das Café Pucher, ein großbürgerliches Wohnzimmer sowie ein Edelrestaurant. An der Stirnseite der Halle wartet ein Kabarett auf die Besucher, in einer Nebenhalle kommen noch ein Großraumbüro und ein Feldlazarett hinzu, jeweils akribisch ausgestattet bis zum kleinsten vergilbten Spucknapf. Die totale Immersion – wenngleich Immersions-Perfektionisten wie Signa sicherlich kurz hätten hüsteln müssen, hätten sie in den Aktenschränken den Ordner mit der Aufschrift „Sommersemester 2001/02“ entdeckt.
Aber was soll’s, für solcherart Feinheiten bleibt eh keine Zeit. Ständig geht irgendwo irgendwas in Flammen auf, Fackeln werden entzündet, Schauspieler drängen zum Ortswechsel, drücken einem Zeitungen, Fotos, Weingläser in die Hand, man sitzt, steht, schaut und staunt, bis zum Grande Finale rund eine Stunde vor Schluss der Eisenbahnwaggon samt Ensemble gravitätisch auf die Kabarett-Bühne zurollt, auf der verkleidet als General, man hätte drauf wetten können, der Regisseur des Abends sitzt, will sagen: der Mann, dank dem dieses frei finanzierte, 2018 in Wien uraufgeführte und für Berlin neu adaptiere Manker-Spektakel überhaupt möglich ist. Tusch!
Damit hätte man es belassen können. Mankers „Letzte Tage der Menschheit“ sind eine stoffliche Sensation. Eine Mischung aus Kriegstheater, Historienspektakel und Krimi-Dinner, bei dem Feinheiten des Spiels fast undenkbar sind und so manch eine chorische Passage in der Weite der Halle versuppt. Das Paradoxe aber ist, dass es eben jenes Spektakel ist, das einen dann eine Rezeptionsebene weiterkatapultiert. Die Kuratorin Inke Arns hatte diesen Effekt in Zusammenhang mit der Praxis des Reenactments beschrieben, das die Distanz zum historischen Ereignis nicht nur zu löschen versuche (wie bei Manker durch totale Immersion), sondern sie gleichzeitig auch schaffe, indem es ständig seine eigene Medialität reflektiert. Geschichte tritt uns eben immer nur vermittelt gegenüber, als „Abklatsch“, wie Karl Kraus es formulierte. Daher sah er – trotz aller dokumentarischen Bemühungen – seine Aufgabe darin, die „Zeit in Anführungszeichen zu setzen, in Druck und Klammern sich verzerren zu lassen, wissend, dass ihr Unsäglichstes nur von ihr selbst gesagt werden konnte“.
Liest man Mankers Inszenierung als Reenactment, ist es just das Unbehagen, das einen angesichts all der falschen Soldaten und gefakten Toten, der „verzerrten“ Kabarett-Nummern und überzeichneten Aufmärsche überfällt, welches einen die Schwelle des Unsagbaren erahnen lässt. Es gibt etwas, das nicht gezeigt werden kann, dennoch aber in jedem Zeitungsschnipsel, jeder Spielszene, jedem Kostüm präsent ist. Inke Arns nennt es „das Unheimliche des Spektakels“, dessen Wirkung da entsteht, wo Sprache und Bilder enden. //