Wo ist Wir?
Armin Petras im Gespräch mit Nicole Gronemeyer
von Armin Petras und Nicole Gronemeyer
Erschienen in: Lob des Realismus – Die Debatte (09/2017)
Nicole Gronemeyer: Armin Petras, Sie sagten vor einiger Zeit auf einer Kleist-Tagung mit Berufung auf Norbert Elias’ „Prozess der Zivilisation“, dass die letzten drei-, vierhundert Jahre Menschheitsgeschichte, besonders in Feudalgesellschaften und dann kapitalistischen Ländern, dazu geführt haben, dass wir immer mehr unsere eigenen, individuellen Gefühle, Sehnsüchte abgeschnitten haben, damit wir in einen kapitalistischen Warenreproduktionsprozess hineinpassen. Elias beschreibt für Sie also einen negativen Prozess, bei dem das Kreatürliche des Menschen verloren gegangen ist. Ist aber Elias nicht vielmehr so zu verstehen, dass die Umwandlung sozialer Fremdzwänge in psychische Selbstzwänge eine zivilisatorische Leistung ist, die stattfinden muss, um das vorbehaltlose und gewaltfreie Zusammenleben mit anderen Menschen erst zu ermöglichen?
Armin Petras: Ich glaube, das ist eine Wertung, die Sie gerade vornehmen. Ich habe auch eine Wertung vorgenommen. Ich glaube schon, dass der Sachverhalt identisch ist, wie ich ihn beschreibe und wie Elias ihn beschreibt. Die einzige Unterscheidung ist dieses Wort „muss“, dass die Menschheit sich in eine bestimmte Richtung entwickeln muss. Da würde ich eher Giorgio Agamben folgen, der sagt: Wir müssen erst mal gar nichts. Auch Kapitalismus muss nicht sein, sondern das ist etwas, was wir mitmachen. Agamben beschreibt eine Alternative aus dem Mittelalter, nach der man sich in die Klöster...