Theater der Zeit

Thema

Popstar zerbrochen

Der Schauspieler Christian Friedel zeigt Hamlet in der jugendlichen Orientierungslosigkeit seiner Generation

von Gunnar Decker

Erschienen in: Theater der Zeit: Frontmann Hamlet – Der Dresdner Musiker-Schauspieler Christian Friedel (03/2013)

Assoziationen: Dossier: Musik im Schauspiel Roger Vontobel Christian Friedel Staatsschauspiel Dresden

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Wer ist Hamlet? Bei Christian Friedel ein Popstar, aber einer auf der abschüssigen Ebene. Die Bühne vorn ist ganz wie bei einem Rockkonzert: Technik regiert – dahinter wie ein historistisches Ornament eine barocke Theatergalerie, darauf flegeln König Claudius und seine Frau (und Hamlets Mutter) Gertrud. Der ganze Hofstaat hat sich versammelt zu des Prinzen Hamlet Wiederkehr. So sehen wir ihn dann ans Mikrofon treten: schmal und blass, ein Nobody von heute. Die Stimme ebenso schmal, fast zaghaft der Beginn. Der Hofstaat blickt desinteressiert freundlich von der Galerie herab. Von dem Jüngelchen da unten droht jedenfalls keine Gefahr.

Aber dann geht es Schlag auf Schlag, Song für Song. Sein Auftrittslied: „I’ll call thee Hamlet“ – eine Kampfansage, doch noch voller unverdorbener Sehnsucht und Trauer um den Vater. Das ist neu an Roger Vontobels Regie: Er lässt Hamlet sich erst einmal warm singen. Da er Musik macht, scheint noch nicht alles verloren. Ohne Musik ist das Leben ein Irrtum, sagt Nietzsche. Aber ist es mit Musik schon pure Wahrheit? Friedels Hamlet ist nicht allein, er hat eine Band bei sich, mit Namen Woods Of Birnam. Aber irgendwann ist auch das letzte Klagelied, die letzte Sehnsuchtsmelodie gesungen. Und dann?

Die dunklen Schatten kehren wieder. Es sind anfangs lauter kleine Einfälle, fixe Ideen, pure Gespensterseherei. Sie bleiben schließlich als unheimliche Gäste. Ist Hamlets Krankheit die Melancholie, die aus zu viel schwarzer Galle kommt, wie die Medizin zu Shakespeares Zeiten vermutete? Oder ist es die Krankheit seiner Zeit, die nach ihm greift? Vatermord liegt in der Luft, aber Hamlets Vater ist bereits tot. Was liegt da näher als ein Komplott zu vermuten, das nach Rache schreit? Inzwischen leben wir längst in antiautoritären Zeiten, zumindest geben sich alle gern den Anschein. Als Frontmann seiner Band probt Friedels Hamlet den Auftritt als Rebell. Klugerweise wird hier die klassische Schlegel/Tieck-Übersetzung gespielt – sie erdet Hamlets Höhenflüge. Die Sprachgestalt ist nicht verhandelbar, nur der Rhythmus, die Betonungen. Da wird es interessant, da beginnt Schauspiel anders zu atmen.

Wenn man nicht schreien kann, soll man singen

Am Morgen nach dem „Hamlet“ bin ich in einem Dresdner Café mit Christian Friedel verabredet. Am Nachmittag fliegt er nach London zur Kostümprobe für seine Rolle des Kleists in einer Verfilmung von Jessica Hausner, die mit ihrem „Lourdes“-Film (2009) weltweit für Aufsehen sorgte. Friedel hat schon bei Michael Haneke in „Das weiße Band“ gespielt und war der heimwehsüchtige Russe in der Verfilmung von Wladimir Kaminers „Russendisko“.

Er hat viele russische Freunde, sagt er, aber was ist ein typischer Russe? Er selbst trinkt und raucht nicht. Fast scheint er auf so spirituelle Weise ätherisch wie Aljoscha in Dostojewskis „Die Brüder Karamasow“. Das ist derjenige von den drei Brüdern, der den Mönch in sich trägt und stellvertretend für die Sünden seiner Brüder büßt. Und gerade ist wieder ein Film mit Christian Friedel ins Kino gekommen: „Ende der Schonzeit“ von Franziska Schlotterer. Da spielt er einen Juden auf der Flucht, der sich bei einem deutschen Bauern versteckt – und diesem, da er nun schon mal da ist, einen Stammhalter mit der jungen Bäuerin (Brigitte Hobmeier) zeugen soll. Ein tödlicher Strudel, der den fast schon Geretteten zu einem Verlorenen macht.

Wir wollen weiter über Hamlet reden, über Woods Of Birnam und darüber, wie die Musik die Inszenierung verändert. Eben hat Friedel mit alten Freunden aus seiner Heimatstadt Magdeburg gefrühstückt. Dass ihnen der Hamlet gefallen hat, freut ihn. Die alte Heimat ist immer noch präsent, auch wenn er inzwischen zugleich von innen und von außen auf sie blickt. Ja, er kennt sich aus mit der Unmöglichkeit nach Hause zu kommen – wenn man selbst inzwischen anders geworden ist. Hamlet kreist um sich und seinen Schmerz, der Teil seiner Ich-Performance wird. Christian Friedel ist phänomenal in seinem doppelten Auftrag: als nervendes Stiefsöhnchen mit Lizenz zur tödlichen Rache am vermeintlichen Vatermörder und als Sänger seiner Band, die Altenglisches in rapide Popsongs verwandelt, in denen doch immer etwas mitschwingt vom Eros einer längst verlorenen Zeit.

Wenn man nicht schreien kann, soll man singen. Wenn man nicht weinen will, muss man Musik machen. Die Idee eines Trauerkonzerts für einen Gestorbenen ist Friedel sehr vertraut. Als sein Vater vor Jahren starb, hat er ein Konzert zu seinem Andenken veranstaltet. Manchen hat das irritiert – ist das nicht unzulässig lebendig? Aber es war richtig, er ist immer noch froh darüber. Es war der Abschied, so, wie er ihn gewollt hat.

Wie kam es überhaupt dazu, dass der Schauspieler Christian Friedel, der in Dresden bereits als Don Carlos (ebenfalls in der Regie von Roger Vontobel) und als Mackie Messer in Friederike Hellers Inszenierung der „Dreigroschenoper“ für Furore sorgte, in „Hamlet“ mit eigener Band auf der Bühne steht? Es hat damit begonnen, so Christian Friedel, dass ihm sein Auto gestohlen wurde. In dem Auto war eine CD, das Debütalbum von Polarkreis 18, einer Dresdner Band. Die CD war nirgends mehr zu beschaffen, aber er wollte sie unbedingt wiederhaben. Darum hat er sich direkt an die Musiker gewandt. So kam der Kontakt zustande, und seitdem arbeiten sie zusammen. In „Hamlet“ mit den Musikern auf der Bühne zu stehen, zwischen Mikrofonen, Steuerpulten, Instrumenten und Verstärkern, das schafft jene besondere Live-Atmosphäre, die Prinz Hamlet in seiner ganzen jugendlichen Orientierungslosigkeit zeigt. Wegen dieser – die er mit einer ganzen Generation teilte – ist ja die Beatmusik einmal entstanden. Sehnsucht und Skepsis verbinden sich zu einer Melodie, die über alle Widerstände hinwegträgt. So lange Hamlet musiziert, mordet er nicht. Erst im zweiten Teil, von den Musen verlassen, beginnt das Unheil.

Christian Friedel findet es wichtig, dass die Texte auch auf Englisch gesungen werden, der besondere Klang der Sprache gehört zu Shakespeare. „The Mousetrap“ ist einer dieser Texte, der direkt auf Shakespeare zurückgreift – da geht der Rhythmus der Sprache mit dem des Pops eine suggestive Verbindung ein, so dass man am Ende absolut sicher ist: Hamlet ist unter uns. Hamlet, sagt Friedel, sei immerhin schon dreißig Jahre alt. Er hat starke kindliche Traumantriebe, das könnte auf den Künstler in ihm deuten. Jedoch: Er scheint schwach, wenn es um Taten geht. Kampferprobt ist er nicht, intrigenerprobt noch weniger. Aber das wird sich ändern. Doch wehe, wenn ihn seine forsche Naivität verlässt, wenn ihn Einsicht anfällt wie eine Krankheit. Dann reißt er seine Widersacher, die er nicht bezwingen kann, mit in den Abgrund. Und als ob der Generationenkonflikt nicht schon schlimm genug wäre, macht Shakespeare Hamlet zum Stiefsohn! Nur eines ist schlimmer als Vaterhass: Stiefvaterhass, der den Vater von aller Schuld des Erzeugers freispricht und den Sohn zum Rächer macht. Der Vater ist tot, er kann es nicht mehr verhindern, dass sich Prinz Hamlet seiner bemächtigt, ihn gegen den Stiefvater instrumentalisiert, der in seinen Augen nur ein Mörder sein kann.

Der ödipal aufgeladene späte Pubertätstaumel Hamlets ist gewiss eine Zumutung. Christian Friedel sieht das auch so. Wir sind immer noch beim bald anderthalbstündigen Wut-, Trauer- und Liebesgesang Hamlets, der manchmal wie ein Stöhnen, manchmal frech herausfordernd nach gewollter Lärmbelästigung klingt. Ist es nicht merkwürdig, dass der Student Hamlet ziemlich konfus aus Wittenberg nach Kopenhagen zurückkehrt und die ihm zuteil gewordene Aufklärung einen merkwürdigen Effekt hat: Er sieht nun Gespenster? Ist er nun einfach wahnsinnig oder bloß todtraurig? Leidet er an einer Depression, an schizothymen Schüben, an Verfolgungswahn – oder sieht er ganz klar, was los ist in seiner Traumbefangenheit? Christian Friedel, der jede Kraftpose vermeidet, seinen Hamlet erst in der Musik wieder zu sich und zur Entschlusskraft kommen lässt, kann diese langsam anschwellende Ekstase spielen. Aber sie schlüssig interpretieren, das hält er nicht für sinnvoll. Es ist ein Knoten, den man nicht auflösen sollte – und wer ihn einfach zerschlägt, hat nichts von „Hamlet“ begriffen.

Denn was ist das allein schon für eine Sprache! Ihr heller, durchdringender Klang fährt in den faulen Frieden so leicht hinein wie ein Messer in eine reife Frucht. Er selbst ist dieses Messer geworden, nur noch existierend, um zu schneiden, nach einem Opfer verlangend. Und es kreisen des Vaters nächtliche Traumworte, dieser Nebelauftrag, den er nur zu schnell ins klare Licht der Rache zu stellen bereit ist: „Höre, es war Mord!“ Da tanzen eng umschlungen Wahn und Wahrheit, Traum und Klarsicht, Pathos und Ironie. Es ist Hamlets Totentanz, aufgespielt am Hofe seines Stiefvaters, der für ihn ein illegitimer Erbe des Königtums ist. Und da steht mit Hamlet ein todbringender Rächer seines Vaters auf: der junge Held gegen den korrupten alten Opportunisten jeder Macht. Aber dieser Rebell ist allzu fanatisch, er ist starr und stur bis zum Wahnsinn. So erobert man keine Macht, so ruiniert man sie bestenfalls.

Der Virus Hamlet

Christian Friedel scheint der ideale Hamlet von heute. Lieber einmal mehr unterspielend als auftrumpfend. „Sein oder nicht sein“ – diesen Monolog lässt er so beiläufig fallen, dass man meint, ihn zum ersten Mal zu hören. Sehr jugendlich weich, eher empfindlich als empfindsam, weltunerfahrener als er glaubt, sicher nur darin, dass die Welt dazu da ist, seinem erfolgreichen Gedeihen Beifall zu klatschen. Wir sehen hier Hamlets Selbstverwirklichung zu.

Aber das Bandprojekt stoppt abrupt zur Pause. Auch die Theaterkulissen sind verschwunden, die Bühne ist wüst und leer – und in dem Maße, wie Hamlet mit dem Grauen kämpft (welch furiose Totengräberszene!), beginnt er zu rasen, ist plötzlich selber Teil der alten Welt und nicht der Hoffnungsträger der neuen. Wie kann das gehen? Und vor allem so schnell! Diese Lesart reicht zurück bis zur 89er „Wende“, trifft den Lebensnerv der jungen Intellektuellen aus dem Osten. Eine verlorene Generation, die sich einen Moment lang als Sieger der Geschichte dünkte, mit gewonnener Revolution als Glanzstück der eigenen Biografie. Aber die Dialektik der Geschichte gibt sich tückisch, setzt auf die Macht der Deutungshoheit.

Das ist der Virus Hamlet, und Christian Friedel, 1979 in Magdeburg geboren, trägt etwas von diesem Erfahrungshintergrund mit sich. Dabei scheint sein Hamlet mit den Augen von heute anfangs nur eins zu sein: ein angehender Star, der umjubelt werden will. Der gern weiterschlafen würde, wenn nur der Beifall anhielte. Aber wehe wenn nicht – was für ein Aufwachen dann! //

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