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„And now I have to learn to breath the air of democracy“, sagte Müller in einem Interview am 10. November 1989 in New York, wohin er tags zuvor aufgebrochen war. Zur Unzeit am falschen Ort, was soll er da, was soll er, nach seinen Gefühlen, seinen Erwartungen gefragt, zur Antwort geben? War es der doppelte Jetlag, Zeitzonensprung zugleich und plötzliche Zeitenwende, der ihm den seltsamen Satz eingab, der nur dann nicht devot klingt, wenn man Ironie in ihn hineinliest, Ironie, gemischt mit einem Vorgefühl von Ungemach.
Denn was hätte er nun ernstlich lernen sollen, der weltweit gefeierte Regisseur und Bühnenautor, an westliche Luft seit langem gewöhnt? Dass die siegreiche Staatsform ihn von jetzt an überall erwarten würde, auswärts wie daheim? Oder ahnte er, dass man ihm alsbald die Gretchenfrage stellen könnte: Wie halten Sie’s mit der Demokratie?, und übte sich, der Falle zu entkommen, schon einmal in der Rolle des Lernbereiten?
Wenige Tage zuvor, am 4. November, hatte Müller seine Haltung auf eine das Publikum doppelt irritierende Weise öffentlich gemacht. Hunderttausende waren auf dem Berliner Alexanderplatz zusammengeströmt, um Reden zur Feier und zur Ermutigung des soeben erwachten „Volkes“ anzuhören. Als einziger der dort zu Wort kommenden ostdeutschen „Kulturschaffenden“ sprach...