Theater der Zeit

Neustarts

Beben in der Bundeshauptstadt

Roger Vontobel glückt zum Neustart an den Bühnen Bern ein Bravourstück

von Daniele Muscionico

Erschienen in: Theater der Zeit: Oliver Bukowski: „Warten auf’n Bus“ (01/2022)

Assoziationen: Sprechtheater Schweiz Roger Vontobel Bühnen Bern

„Maria Stuart“ in der Regie von Roger Vontobel. Foto Yoshiko Kusano
„Maria Stuart“ in der Regie von Roger VontobelFoto: Yoshiko Kusano

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Vorhang auf in Bern! Alles soll anders werden, und der Name ist es bereits. In der schönen Schweizer Bundeshauptstadt steht mit der Intendanz von Florian Scholz nicht mehr das „Konzert Theater Bern“, wie sich das Haus seit der Fusionierung von Stadttheater und Symphonieorchester etwas betulich nannte. Flott hat man es in „Bühnen Bern“ umgedichtet und ein Zeichen gesetzt, dass unter dem 2017 teuer sanierten Dach vier starke, unabhän­gige Sparten funktionieren sollen.

Die überzeugendste Sparte, und das freut die Bernerinnen und Berner besonders, ist seit dieser Spielzeit das Schauspiel. Man hat hier zur Saisoneröffnung eine „Maria Stuart“ erlebt, bei der die Münder offen blieben. Die Darstellerinnen und Darsteller, bis in die letzte Nebenrolle überragend besetzt. Vielbeachtet, viel beklatscht, mit diesem Auftakt erobert Roger Vontobel sein Publikum nach Punkten.

Allein die Bühne von Olaf Altmann besaß in ihrer kühnen Reduktion und Erhabenheit preiswürdiges Potenzial. Mit Yohanna Schwertfeger als Maria und der Antipodin Isabelle Menke als Elisabeth I. glückte Vontobel ein eindringliches und intelligentes Stück über männliche Machtstrukturen, in welchen Frauen unabhängig von Stand und Funktion instrumentalisiert und zerrieben werden.

Mochte Menkes Elisabeth von sich behaupten „regiert zu haben wie ein Mann und wie ein König“, die Männer-Mühlen und Machenschaften der Mortimers dieser Welt mahlen zuverlässig – klein. Die Vergeblichkeit von Frauen, Macht und Autorität zu beanspruchen, trieb Vontobel dem Publikum schmerzhaft ins Bewusstsein. Dass die Schweiz das letzte Land Europas war, das ihren Bürgerinnen das Stimmrecht und das Wahlrecht zugestand, passte als historische – und zeitgenössische – Folie von „Maria Stuart“ perfekt.

Auf der Bühne richteten sich alle Augen auf eine, die wie Schwertfeger neu im Ensemble ist, Lucia Kotikova in der Rolle des Staatssekretärs Davidson. Sie ist mit 22 Jahren blutjung, kommt frisch von der Schauspielschule in Hannover, Bern ist ihr erstes Engagement. Kotikova kann ihr Innerstes in ihrem Gesicht offenlegen, und es braucht kein Orakel, um zu wissen, dass hier der Schweiz eine neue Ausnahmeschauspielerin erwächst.

Jenseits der Neuentdeckung Kotikova bot „Maria Stuart“ eine überragende Ensembleleistung, bei der Licht (Christian Aufderstroth), Livemusik (Keith O’ Brien) und Schauspiel perfekt ineinandergriffen. Insider meinten sogar, dass der Regisseur mit seiner Eröffnungsinszenierung gut und gern die Leistung der gefeierten „Don Carlos“-Arbeit in Dresden 2010 erreicht.

Dazu schenkte der neue Schauspielleiter der Stadt auch eine ganz andere Handschrift und Theaterfarbe: Sein alter Spezi Tilmann Köhler und die Chefdramaturgin Felicitas Zürcher ­brachen mit einer Uraufführung in den Vidmarhallen ein angehendes Berner Kultstück vom Zaun: „Von schlechten Eltern“, eine Fassung des gleichnamigen autobiografischen Romans des Berner Bad Bad Boys und ehemaligen Hollywood-Journalisten Tom Kummer. Köhler hat die Figur des narzisstischen angeschlagenen Protagonisten, Tom, dreifach besetzt; ein kluges Prinzip, mit dem er seine Art von modernem Männersterben in einen thematischen Bezug stellt zu Schillers „Maria Stuart“.

Eine entschiedene, starke und dramatisch klug gesetzte Saisoneröffnung also. Zu erwarten war sie nicht, denn über dem größten Vierspartenhaus der Schweiz, und insbesondere über der Sparte Schauspiel, steht seit Längerem kein Glücksstern mehr. Als Intendant und vor allem als Schauspielleitender wurde man hier in der Vergangenheit nicht alt. Oder dann nicht glücklich.

Doch jetzt ist er Hauptstadt-reif, der Zürcher Roger Vontobel, und der hat bekanntlich ein Gefühl für Menschen. Für seine Zeitgenossen auf und vor der Bühne. Klar, er ist ein Idealist. Alles, was an Postdramatik riecht, darf man nicht von ihm erwarten. Doch zu erwarten war ebenso wenig, dass einer mit Jahrgang 1977, dreifacher Vater und erklärter Familienmensch, diesen Schritt zurück tut – und der Schweiz eine zweite Chance gibt. Mit dem Blick eines Vaters gibt er denn auch unumwunden zu: „Was Familienpolitik betrifft, bin ich sehr enttäuscht von der Rückständigkeit der Schweiz.“ Das Thema Familienpolitik wird in der kommenden Spielplangestaltung einen wesentlichen Aspekt darstellen.

Viel will er, der Neue, und er traut es sich zu. Beispielsweise reizt ihn, das nivellierende Prinzip des Kompromisses, wie er typisch für die Schweiz ist, mit dem Exzessiven des Theaters zu verbinden.

„Der Kompromiss hat ganz klar auch etwas mit meiner Schweizer Seele zu tun.“ Den Job des Intendanten will und muss er erst lernen. Doch das Entscheidende in der Agenda von Vontobel ist bereits ausgemacht. Er will mit seinem Dramaturgenteam, Felicitas Zürcher als Chefdramaturgin, Michael Isenberg und Julia Fahle, ein Wir-Gefühl zwischen Stadt und Theater entwickeln. Es wird sich um ein neues, ein unbekanntes Gefühl handeln, denn zwischen den Bürgerinnen und Bürgern und der Bühne gibt es seit Längerem ein Fremdeln.

Deshalb auch „Maria Stuart“ in der Kommune, in der die politischen Entscheide des Landes gefällt werden – mit Konsequenzen bis weit über das Land hinaus. Doch jenseits seines Interesses, gemeinsam mit dem Publikum über die politischen Entscheidungsfindungsprozesse und Machtmechanismen in der Schweiz nachzudenken, Vontobel geht es um Grundsätzlicheres.

Mit der anerzogenen Höflichkeit des Eidgenossen sagt er es so: „Ich würde mir wünschen, die gesellschaftliche Notwendigkeit des Theaters im Bewusstsein von Bern und der Schweiz zu etablieren. Ich möchte das Grundverständnis zurückbringen, dass das nicht unser Haus, sondern das Haus der Stadtbevölkerung ist.“ Denn ein Unterschied zu Deutschland und Österreich fällt ihm in seiner neu-alten Heimat sehr wohl auf. „Hier wird gefragt: Wieso brauchen wir Theater? Wieso bezahlen wir mit unseren Steuergeldern etwas, was nicht mit uns zu tun hat?“War ihm denn die mäßige Liebe seiner Landsleute für die darstellende Kunst nicht bewusst? „Meine ganze Theatersozialisierung hat jenseits der Schweiz stattgefunden“, meint er. Informiert von alten Schweizer Weggefährten war er schon, dennoch: „Ein bisschen überrascht bin ich in der Tat.“Der Umstand hält ihn nicht davon ab, an einen Aufbruch zu glauben: Er schwärmt von flachen Kommunikationsebenen des Hauses und der Freiheit, die er innerhalb der komplexen Struktur genießt. Sogar das Adjektiv „autark“ fällt ihm dazu ein, wenn er von seinem „Theater im Theater“ erzählt. Er erlebt die Struktur groß genug, um einiges zu stemmen, aber klein genug, um sie im Team zu durchblicken, zu bewältigen und im Kleinen auch zu verändern.

Beispielsweise träumt er davon, dass die Vidmarhallen als neuer Quartiertreffpunkt, als Begegnungsstätte und Public-Open-Space genutzt werden; und er hat auch ein neues Format ausgeheckt, das „Schauspiel mobil“ heißt. Das könnte als Open-Air- oder als Pop-Up-Theater überall funktionieren, an Dorfrändern, auf Wiesen, in Hotels, wo immer man das Theater willkommen heißt. In der ersten Spielzeit emigrierte man mit der Inszenierung „Der talentierte Mr. Ripley“ in eine architektonisch visionäre 50er-Jahre-Genossenschaftssiedlung außerhalb von Bern, später dann in das legendäre Fünfsterne-Hotel Bellevue im Zentrum.

Nächstes Jahr soll die zweite mobile Inszenierung open air stattfinden: Der Bündner Schauspieler und Regisseur Bruno Cathomas will als Pop-Up-Theater „Der Drache“ von Jewgeni Schwarz inszenieren. Die Premiere soll in einem Landgut außerhalb von Bern stattfinden, in einem Anwesen, von dem die reiche und geschichtsträchtige Stadt Beispiele zuhauf hat.

Hätten die Menschen mit ihrer großen Vergangenheit als Bürger nur das Bewusstsein für die große Gegenwart des Theaters, Bern wäre dann wohl nicht Bern. Roger Vontobel hat sich mit seiner Theatermissionierung der alten Heimat einen Brocken vorgenommen. Kompromisse, wie sie das Land liebt, wird er nicht durchgehen lassen. //

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