Protagonisten
Stimmen der Wüste
Das Theater an der Ruhr in Mülheim war schon immer ein Kreuzungspunkt der Kulturen – nun wird es wichtiger denn je
Erschienen in: Theater der Zeit: Alexander Kluge: Tschukowskis Telefon – Umwege zum Realismus (12/2015)
Assoziationen: Hessen Akteure Theater an der Ruhr

High Noon. Die Stunde der Wahrheit. Über der Steppe von Mülheim glimmt eine fahle Sonne. Zwei finstere Gestalten gehen im Zwielicht in Position. Gleich wird er fallen, der erste Satz dieses Abends – doch plötzlich schießt ein anderes Geräusch quer durch den Raum. Der Ruf eines Muezzins, zum Gebet, zum Gebet! Lange Gesichter, der Auftritt ist versaut. „Mathilde, meine Schwester“, hatte Adrien eigentlich rufen wollen. „Du bist also wieder zurück in unserer guten alten Stadt.“ Aber daraus wird erst mal nichts. Die „gute alte Stadt“ wird übertönt. „Hinter dieser Mauer“, wird Adrien seinem Sohn später verschwörerisch zuraunen, „beginnt der Dschungel (…) Die Welt ist hier (…) sonst gibt es nichts zu sehen.“
Hier. Das ist in Bernard-Marie Koltès’ „Rückkehr in die Wüste“ die französische Provinz. Metz vielleicht, diese ehemalige Festungsstadt im nordfranzösischen Lothringen, in der Koltès 1948 als Sohn eines Offiziers geboren wurde und in der selbst der Bahnhof wie eine Kirche aussieht, von der großen Kathedrale im Zentrum ganz zu schweigen. 2014 gewann hier trotz sozialistischer Regierung der Front National bei den Kommunalwahlen in der ersten Runde fast 21 Prozent. Hier – das könnte in Roberto Ciullis Inszenierung aber auch, ja, hier sein: Mülheim, keine Festung, dafür mit Eigenheimen, Gartenzäunen und Eckkneipen versehen, nur 350 Kilometer von Metz entfernt, zugleich jedoch viel näher an Nordafrika gelegen als die französische Stadt an der Mosel, in der bereits zu Koltès’ Zeiten – der Algerienkrieg lag in den letzten Zügen – viele Araber lebten.
Wieder ein Singsang. Diesmal leiser. Diesmal französisch. Im Großraumbüro des Theaters an der Ruhr sitzt der Intendant des tunesischen Nationaltheaters Fadhel Jaibi und spricht mit Roberto Ciulli. Auf dem Tisch stehen Feigen und Weintrauben. Die Vorstellung beginnt in wenigen Minuten. Doch die beiden Männer lassen sich nicht stören. „Démocratie“ – „dictature“ sticht einmal kurz aus ihrem Gespräch hervor. Dann wieder konzentriertes Geraune. Roberto Ciullis „Rückkehr“ wirkt nach den Attentaten in Paris im November einmal mehr wie ein düsterer Ausblick. Das Stück beschreibt vor dem Hintergrund eines Geschwisterstreits die Auswirkungen des Algerienkriegs auf Frankreich. In Cafés explodieren Bomben, Adrien mauert sich ein. Es ist ein großer Kraftakt, im Angesicht des Terrors auf dieses Stück zu blicken. Es ist eine große, wichtige Produktion.
Die Theater in Deutschland reagieren schon seit Monaten auf die Herausforderungen, die aus IS-Terror und Flucht resultieren. Es gilt, beides nicht zu vermischen, die Situation zu analysieren. Doch mit welchen Mitteln tritt man hier an? Mit medienwirksam inszenierten Mahnaktionen wie am Schauspielhaus Bochum, das Anfang September dazu einlud, in einem bereitgestellten Lkw dem Erstickungstod eines Flüchtlings nachzuspüren? Mit einem presseumwirbelten „Accattone“ von Johan Simons im Dinslakener Stadtteil Lohberg, von wo aus im Sommer 2014 eine Gruppe junger Männer in den Dschihad aufbrach (siehe auch S. 88)? Die Männerbande am Raffelberg würde sagen: eher nein. Es braucht Zeit, Ruhe, Kontinuität, am wenigsten: kulturpolitisch induzierte Aktion.
An der Flüchtlingskrise, sagt Helmut Schäfer, sehe man leider eben auch, was Kulturindustrialisierung bedeute. Da gibt es das Thema „das Fremde“, es gibt die Forderungen der Politik, und schon stehen Kulturinstitutionen unter dem Druck, Projekte zu erfinden. Interkultur werde so zum Gegenstand eines völlig verselbständigten Systems. „Modell Flucht“, nennt Sven Schlötcke dieses Marktförmigwerden von Kunst und zieht gleich noch ein entwaffnendes Adorno-Zitat aus dem Halfter. Aufgabe der Kunst sei es doch, Statthalter der vom Tausch nicht verunstalteten Dinge zu sein. „Es ist doch paradox, wenn das Theater die Mechanismen der Ökonomie übernimmt, zu denen man sich eigentlich widerständig oder wenigstens kritisch verhalten will. Stattdessen tauchen zyklisch Begriffe auf wie ‚partizipativ‘, ‚Stadtprojekt‘ oder ‚Experten des Alltags‘, die plötzlich ganz wichtig werden und offenbar bedient werden müssen. Da muss man aufpassen, dass nicht auch Themen wie Flucht ausgerechnet durch das Theater zur Ware werden. Theater muss in seiner Betrachtung der Welt immer etwas mit Liebe zu tun haben, mit etwas Unbedingtem.“ Die Frage sei daher: „Kommt das, was ich tue, wirklich von innen, aus einer eigenständigen künstlerischen Position heraus, oder folgt man – bewusst oder unbewusst – Moden, Trends oder vermeintlichen Publikumszwängen?“
Schweigen. Dann beugt sich lässig eine Gestalt in die Diskussion. „Also“, sagt Roberto Ciulli, der lange nichts gesagt hat, „wenn man den Unterschied auf den Punkt bringen möchte zwischen dem, was wir hier machen, und dem, was andere machen, könnte man sagen: Mein Verhältnis zu meiner Arbeit ist die eines artigiano, eines Besitzers einer bottega d'arte, einer Werkstatt, in der in wirklicher Kenntnis der Vergangenheit, ihrer Techniken und Werke die Dinge überdacht und neu erfunden werden.“ Solche Sätze haben angesichts einer Theaterlandschaft, in der Intendanten in der Regel alle paar Jahre wechseln, Gewicht. Wobei Bewegung natürlich auch Lebendigkeit ist, aber damit braucht man denen, die ständig auf Achse sind, nicht zu kommen. Seit seiner Gründung 1980 ist das Theater an der Ruhr in der Welt unterwegs, um Leitungen zu legen über große, manchmal ziemlich große Mauern.
Ein Volk mit x Variablen
Man kann es sich gut vorstellen, wie die Männer in ihrer Garage sitzen und werkeln. Bücher von Hegel bis Houellebecq stapeln sich hier – zu „Unterwerfung“ gab es erst kürzlich eine öffentliche Lesung. Neben alten Plakaten liegen Flyer und neue Poster bereit, denn die Werkstatt wird ständig größer, bekommt neue „Zimmer“. Seit 2013 gibt es das Generationenensemble Volxbühne hier am Haus, mit x geschrieben wie ein Platzhalter, ein Volk mit x Variablen. Als Satelliten kreisen seit 2012 zudem die Ruhrorter durch die Stadt, um mit denen zu arbeiten, die von anderswo kamen.
Das Theater an der Ruhr, hat Frank Raddatz in seinem 2006 bei Theater der Zeit erschienenen Buch „Botschafter der Sphinx“ geschrieben, ist ein seltsames Wesen. Werfe seine bloße Existenz schon einige Rätsel auf, so stehe das Rätsel erst recht im Zentrum seiner Ästhetik. Auch im Programmheft zur „Rückkehr“ findet sich dazu ein Bild: Zu sehen ist die Fotografie einer Installation der saudi-arabischen Künstlerin Shadia Alem. Auf den ersten Blick glaubt man, darauf eine verschleierte Frau vor einer Mosaikwand zu erkennen. Doch bei genauerem Hinsehen entpuppt sich die Wand als aus vielen Hundert Filmstreifen gebaut. So arbeitet das Theater an der Ruhr seit über 35 Jahren. An einer Kunst, die sich aus vielen kleinen Momentaufnahmen zusammensetzt, auf der Bühne – und drumherum, man könnte endlos hier so weiterschreiben. Über das Kulturabkommen mit dem Iran etwa, das der Privatmann Roberto Ciulli 1998 schloss, als auf politischer Ebene komplette Funkstille herrschte. Oder über die auf einer Gastspielreise in Algerien geklaute Kamera eines Journalisten, die ihm tags darauf von stolzen, etwas verschwitzten Mitarbeitern des dortigen Theaters nach erfolgreicher Verbrecherjagd wieder überreicht wurde mit der Ansage, eine solche Missachtung der Gastfreundschaft habe das Theater an der Ruhr einfach nicht verdient. Tausendundeine Geschichte über das Leben und gegen den Tod. Und eben nicht das eine große schrille Bild, das Flüchtlingsgrab vor dem Bundestag, der Hassmonolog auf der Bühne. Vielmehr Mosaike, Filmstrips, Bilder, zu denen immer wieder neue hinzukommen.
Eine Männerbande in einer Kneipe. Man hockt beisammen und ratscht. Friedliche Bierseligkeit. Wäre da nicht dieser Kerl, dieser blasse Typ, dieser Flüchtling aus Deutschland, den Jo Fabian in seine Version von Friedrich Schillers „Wilhelm Tell“ eingeschmuggelt hat. Er heißt Schubart, wie der Dichter, der selbst Freiheitskämpfer war, verfolgt obendrein, und nun hier mit seltsamer Skepsis beäugt, was in der Schweiz so vor sich geht. Ein Kampf fürs Vaterland? Aber der Fremde darf nicht mit?
Jo Fabian inszeniert seit einigen Jahren in Mülheim, vorrangig am durch Sven Schlötcke 2008 als eine Art freie Truppe mit nur zwei festangestellten Schauspielern neu gegründeten Jungen Theater an der Ruhr. Mit seinen auratischen, nur vordergründig undurchdringlichen Bildern steht er dabei in künstlerischer Komplizenschaft mit Roberto Ciulli, lange Jahre als Hausherr der einzige Regisseur hier am Haus. In Ciullis Poetik der Bilder – das Wüstenwohnzimmer in Koltès’ „Rückkehr“, der hauptsächlich wie Müll im Sand rumliegende algerische Hausangestellte Aziz, der in diesem Erdreich barfuß wie ein Pascha rumlaufende Adrien – geht es immer wieder um den Riss dazwischen, die blacks zwischen den Aufnahmen wie bei den Filmstreifen Shadia Alems. Er macht deutlich, dass hier, klar, kein echtes Leben abläuft. Es ist vielmehr das Spiel selbst, das, durch die Risse dringend, darauf verweist, dass es jenseits dieser Bilder echte Menschen gibt, Kriege gibt. Dass Bomben explodieren. Nicht bloß hier, sondern vor allem im Irak, in Syrien, in Afghanistan …
In Fabians „Wilhelm Tell“ ist es eine Puppe, die nach Abstimmung durch das Publikum – Schießen oder nicht? – von der Kugel getroffen wird. So what, könnte man denken. Doch die Panik, die auf der Bühne ausbricht, verbietet es. Es ist die Realität eines tragischen Todes, die durch das Spiel des Ensembles blitzt. Den Blick für diese Brüche zu öffnen, aus der rührenden, mal beunruhigenden Stammtischrealität auszubrechen, deren einziger „Ausblick“ die Werbeclips im Fernseher über der Bar sind, also jenseits dessen zu schauen, was scheinbar der Fall ist, dies soll in der professionellen Wahrnehmungs- und Perspektivwechselmaschine am Raffelberg möglich sein. Hier gibt es Zeit zum Denken und die Freiheit dazu – jenseits alles Hippen und Schnellen.
Schnelle Beats. Ein dickes Mädchen wippt keck mit den Hüften. Albrecht Hirche hat für das Junge Theater an der Ruhr Franz Kafkas „Verwandlung“ auf eine Superstar-Bühne verpflanzt. Nicht hip und schnell sollte man bloß nicht didaktisch verstehen, dieser Kafka ist hip und schnell, aber eben nicht oberflächlich. Hirche lässt, während sich Gregor Samsa in einen schillernden Käfer, ein seltsames Wesen verwandelt, auch die Familie mutieren, zumindest die Schwester. Als das „eklige Tier“ am Ende erschlagen ist, steht sie plötzlich gertenschlank da. Endlich so aussehen wie … ja, wie eigentlich? Im Grunde wie alle, die den Modelmaßen der Castingshows hinterherhetzen. Dabei ist schlanker sein wollen natürlich nicht schlimm, nur das Wort Maße klingt hier irgendwie verdächtig. Wie 90-60-90. Oder eben Haus-Frau-Auto-Kind.
„Klar“, sagt Sven Schlötcke, „wer will kein gutes Leben? Wir sind ja letztlich alle bürgerlich.“ Aber dass so viele tatsächlich so erwartbar gleichgeschaltet erscheinen, das findet er, der viel in Schulen unterwegs ist, doch beunruhigend. Es sei die alte Frage nach dem Sinn und dem Glück, die hier wie selbstverständlich beantwortet wird. Keine Fragen mehr? Das Programmheft zeigt einen Jungen in einem Konservenglas. Konserve. Konservativ. So weit in die Soziologie braucht man gar nicht zu gehen. Es reicht das Bild. Ein Leben in festgelegten Grenzen, in dem jede Abweichung als Störmoment erscheint. Auftritt verpatzt – dabei könnten es gerade diese Patzer sein, mit denen sich überhaupt richtig auftreten lässt.
Roberto Ciullis „Clowns 2 1/2“ ist eine Schule verpatzter Momente. Es treten auf: lauter alternde Clowns mit wirren Haaren und schiefer Schminke, eingepfercht in einem Heim, weggesperrt vom Leben. Das wäre die gängige Definition dieser Situation. Doch die Clowns lassen sich nicht lumpen. In vielen kleinen Szenen springen sie dem Trübsinn von der Schippe, versammeln sich mit ihren Pillendosen zum groovigen Pillenkonzert, rascheln so lange mit ihren Morgenzeitungen, bis daraus eine Sinfonie entsteht, oder tanzen rasant unter einem Kronleuchter Walzer, bis der erste fällt. Lauter Magic Moments in Momenten größter Tragik. Das ist das Wesen dieses Mülheimer Wesens. Es schaut mit Liebe und unzynischem Blick auf das Leben, nicht verklärend, sondern mit einer Intensität im Spiel, wie sie auch dem Schreiben Roberto Bolaños eigen war. Eine Kunst, deren einzige Waffe gegen die Kaltblütigkeit der Welt sie selbst ist: die Kunst.
„Die Frage ist“, sagt Sven Schlötcke, „ob Kunst im Zusammenspiel mit anderen gesellschaftlichen Nischenkräften die Deutungsmacht des Ökonomischen über den Sinn des Daseins infrage stellen kann, jenseits des kurzfristig Provokativen, des Spektakulären.“ Das wäre tatsächlich wichtig für ein Leben, das niemals reibungslos verläuft, für eine Gesellschaft, die sich ständig verändert, momentan mehr denn je. In Mülheim jedenfalls, dieser Stadt voller Gartenzäune und Eckkneipen, hat man das Gefühl, dass dies ein Stück weit gelingt. //