Gespräch
Tapeziertes Paradies
Stéphane Laimés aufgeschnittene Räume zeigen die Welt als Modell
von Gunnar Decker und Stéphane Laimé
Erschienen in: Arbeitsbuch: Bild der Bühne, Vol. 2 / Setting the Stage, Vol. 2 – 17 Bühnenbildner:innen im Porträt (06/2015)
Assoziationen: Kostüm und Bühne

Stéphane Laimé, Sie haben – da waren Sie noch sehr jung – an der Ausstattung so berühmter Filme wie „Delicatessen“ (1991) von Jean-Pierre Jeunet und Marc Caro mitgearbeitet. Warum sind Sie nicht beim Film geblieben?
Das war eine technische Mitarbeit, keine künstlerische. Der Stil von Jeunet und Caro, das absurd-groteske Spiel, das fast schon etwas von einem Comic hat, gefiel mir damals sehr. Ausstattung beim Film ist aber etwas völlig anderes als am Theater. Beim Film baut man im Grunde einen woanders vorhandenen Raum bloß nach; die künstlerische Setzung eines Raumes gibt es hauptsächlich im Theater.
Wann wussten Sie, dass Sie Bühnenbildner für das Theater werden wollten?
Sehr früh, weil ich als Kind vieles nicht machen konnte, was andere machten: Sport etwa oder auch nur draußen mit anderen herumlaufen. Ich hatte bis zu meinem 18. Lebensjahr Wachstumsstörungen und musste ein Korsett tragen. Da habe ich dann viel gelesen, Musik gehört und auch das Theater entdeckt.
Was war das Besondere am Theater?
Es ist ein Laboratorium, wo sich Text und Menschen in einem Raum begegnen, den zu schaffen jedes Mal ein Wagnis ist. Ich stehe bei jedem Stück erst einmal ganz ahnungslos da. Insofern habe ich auch keinen Stil in der Art, dass man sofort sieht: Das ist ein Bühnenbild von Laimé. Das liegt daran, dass ich mich nicht wiederholen mag. Mir geht es immer darum, eine Situation zu schaffen, bei der die Zuschauer dazugehören. Ich denke immer daran, wie man um ein Lagerfeuer herum sitzt, das Feuer verändert die Beziehung der drumherum Sitzenden. Darum geht es mir bei meinen Bühnenbildern auch. Sie müssen eine Atmosphäre prägen.
Also mehr als bloß Kulisse sein?
Genau, wenn ein Regisseur zu mir kommt und sagt, was er alles von mir gebaut haben will, dann ist das für mich kein so guter Beginn, damit kann ich wenig anfangen. Ich will nicht für andere arbeiten, sondern mit ihnen zusammen. Zum Theater bin ich als Autodidakt gekommen, habe mitgearbeitet, assistiert und durch das Dabeisein viel gelernt. Was ist für Sie eine Bühne? Der Raum, in dem das Stück spielt. Da steckt also bereits eine szenische Idee drin, die man mit dem Regisseur teilen muss. Das ist dann eine Art magische Situation, die sich herstellt oder nicht. Klaus Michael Grüber hat mich gerade in der Hinsicht stark beeindruckt, mit wenigem ungeheuer viel zu bewirken. Als er an der Berliner Schaubühne „Splendid’s“ von Genet inszenierte, suchte er eine spezielle Form von Sinnlichkeit. Darum stellte er bei der ersten Probe eine Kerze auf den Boden und sagte: „Wenn die ausgeht, ist die Probe zu Ende.“ Und es dauerte nicht lange, und bei einer Bewegung des Kostüms ging sie aus. Ende der Probe. Und bei jeder Probe stand die Kerze auf der Bühne, und wenn sie bei einem Luftzug gleich am Anfang ausging, fiel die Probe quasi aus. Alle achteten schließlich bloß noch auf die Kerze. Solange sie brannte, konnte geprobt werden, und die Schauspieler wollten ja proben. Das hatte etwas von dem archaischen Kult des Feuerbewahrens, eine besondere Achtsamkeit, die man nicht erreicht, indem man sie verbal fordert, sondern die man nur im gemeinsamen Akt des Behütens hervorbringt. Das hat mich sehr beeindruckt, wie dieser Regisseur fast ohne Worte mittels einer Kerze auf der Probe die Atmosphäre schuf, die er suchte. Die Kerze ist dann die besondere Ingredienz des Zauberers, der ein Bühnenbildner im Idealfall sein kann? Ja, die Kerze war in dem Fall das Zentrum, das Herz der Inszenierung, sie schuf eine Haltung beim Spiel. Da lernte ich, dass alles, was auf der Bühne geschieht, eine besondere Bedeutung haben muss, ganz gleich, ob jemand den Boden aufwischt oder von rechts nach links geht. Es ist eine künstliche Welt voller Zeichen und Symbole, an der alle teilhaben, die Schauspieler und die Zuschauer. Das eigentliche Theater findet im Kopf des Zuschauers statt? Natürlich. Wenn es dort nicht ankommt, ist alles umsonst, was auf der Bühne gemacht wird. Letztlich geht es um die
Imagination von Wirklichkeit. Den Schlüssel dazu muss man aber erst einmal finden. Und das aufschließende Bild, das die Bühne dann vermittelt, ist jedes Mal ein anderes, es kommt aus dem Text, aber auch aus den Gesprächen mit dem Regisseur, aus seiner Lesart des Stoffes. Sie arbeiten mit vielen unterschiedlichen Regisseuren zusammen, am intensivsten war bislang Ihre Zusammenarbeit mit Jan Bosse. Die Inszenierungen, die ich von Ihnen beiden sah, „Platonow“ und „Hedda Gabler“ am Hamburger Thalia Theater, „Anna Karenina“, „Amphitryon“ und „Das Käthchen von Heilbronn“ am Berliner Maxim Gorki Theater, hatten immer diese ungeheure szenische Verdichtung des Spiels – wie entstehen solche Spiel-
Räume? Zuerst einmal: Die Räume entstehen ganz am Schluss, wenn ich glaube, die Essenz des Stücks gefunden zu haben. Um was es dabei geht, ist ja keine Illustration, sondern eine Setzung. Da muss man natürlich mit dem Regisseur auf besondere Weise harmonieren. Er muss das auch wollen, so wie Jan Bosse. Wir waren uns etwa bei „Anna Karenina“ einig: Sie ist wie eine Gipsfigur, ihr Platz in der Welt ist mit dem Fach in einer Anrichte vergleichbar. Die Welt als Modell, fast schon als Präparat behandelt, das man wie unter dem Mikroskop anschaut, das hat mich an Wes Andersons bizarre Filmästhetik erinnert, besonders an „Die Tiefseetaucher“, all die aufgeschnittenen Räume, in die wir Zuschauer unerlaubterweise hineinblicken können, in denen aber die Figuren der Handlung ganz und gar eingeschlossen sind. Ein atomisierter Zustand? Jede Figur hat hier einen Kasten, den sie bewohnt: ihr Fach, ihre Zelle. Die türmen sich dann übereinander, aber Interaktion findet kaum statt und wenn doch, dann müssen die Akteure außen herum klettern, denn die Fächer haben keine Türen. Alle sprechen sie immer direkt nach vorn in den Zuschauerraum, nicht zueinander. So entsteht die Atmosphäre einer unerträglichen Künstlichkeit und Einsamkeit. Bei „Peer Gynt“ war es dann der babylonische Turm auf der Bühne: der Kopf von Peer Gynt selbst, in dem diese rätselhaft labyrinthische Fantasie entsteht. Bei „Platonow“ ist es dieser kuriose Wohnwagen, den man nicht erwartet hat, weil man doch weiß: Hier versammelt sich eine Gesellschaft auf dem Lande! Der Grundeindruck sollte sein: Es bleibt eng und provinziell, wohin sie sich auch begeben, ihre kleine Enge-Welt-Hölle nehmen sie überallhin mit. Die Bühne dreht sich, wir blicken von allen Seiten – aber der Befund ändert sich nicht. Die Natur kommt nicht vor in diesem Stück, Menschen auch nicht, nur ihre sie beherrschenden Neurosen. Ähnlich in „Hedda Gabler“, da gibt es den Wald auch nur auf einer großen Bildtapete. Ja, die Erwartung scheint groß. Neues Haus, neues Glück – und dann doch wieder nur die alten Geschichten. Die alte Entfremdungsgeschichte mitten im Biedermeierplüsch. Jan Bosse und ich wussten sofort: Wir müssen das Paradies tapezieren! Ich habe die Bühne gehasst, sie hat mich schließlich selbst fertiggemacht. Alle stecken sie hier im falschen Leben fest, aber niemand will es sich eingestehen. Lieber werfen sie dann mit Knall alles weg, um die Lüge aufrechtzuerhalten. „Dantons Tod“, das 2014 in Wien Premiere feierte, war eine große Nach-der-Schlacht-Szenerie, ein Blick in den Bauch der Revolution als Schreckenskammer! Ja, die Bühne ist riesig – 120 Laufmeter bei sechs Metern Höhe! Der gigantische Raum ist schwarz gestrichen und dreht sich – alles, was darin zu sehen ist, sind bloße Fetzen von etwas, das dem reinen Ideal nicht standhielt –, also der große Traum von der völligen Umwälzung aller Verhältnisse in seiner Nacktheit. Die Revolutionsmaschine in ihrer Abstraktion ist Terror um des Terrors willen. Die Bühne beerdigt augenfällig alles Menschliche. Welche Forderungen stellen Ihre Bühnenbilder an den Schauspieler? Er muss etwas verstehen und fühlen. Das ist die Forderung des Raumes, den man nicht naiv betreten darf. Für „Was ihr wollt“ am Thalia habe ich ein Diorama benutzt, das ist ein dreidimensionaler Kasten mit gemalten Hintergründen. Dahinein habe ich Bäume gesetzt, zwei unterschiedliche Ebenen von Abstraktion. Ein Fantasieraum, der zu leben beginnt. Meine Lüge ist wahr, auf diesem Prinzip beruht Theater. Das hat schockierende Elemente, deren Faszinationskraft aber kein Selbstzweck ist, sondern uns hilft, die Wahrheit über uns selbst zu entdecken. Sie arbeiten an deutschen Theatern, aber auch international in der Schweiz, in Österreich, Frankreich und England. Worin liegt der Unterschied? Das deutschsprachige Ensembletheater ist einmalig. In Frankreich kennt man die Académie française und das Tourneetheater, das en suite spielt. Da spürt man das Erbe der Troubadoure. Gewiss gibt es Isabelle Huppert oder Michel Piccoli, die es immer noch schaffen, großes Theater zu machen, aber im Grunde gibt es den Theaterschauspieler, wie man ihn in Deutschland kennt, dort nicht. Nach Manchester bin ich im Juni 2015 zur Eröffnung eines neu gebauten internationalen zeitgenössischen Theaters namens Home eingeladen, um das Bühnenbild für „Tintenherz“ zu machen. Immerhin, eine Neueröffnung, das ist für britische Verhältnisse schon eine großartige Sache. //