Theater der Zeit

Auftritt

Berlin: Im kalten Licht

Berliner Ensemble: „Exil“ von Lion Feuchtwanger, Bearbeitung Luk Perceval und Sibylle Baschung. Regie Luk Perceval, Bühne Annette Kurz, Kostüme Ilse Vandenbussche

von Thomas Irmer

Erschienen in: Theater der Zeit: Der Untergang des russischen Theaters (10/2022)

Assoziationen: Annette Kurz Sibylle Baschung Luk Perceval Berliner Ensemble

„Exil“ von Lion Feuchtwanger in der Regie von Luk Perceval am Berliner Ensemble. Foto Jörg Brüggemann
„Exil“ von Lion Feuchtwanger in der Regie von Luk Perceval am Berliner Ensemble.Foto: Jörg Brüggemann

Das Thema von Lion Feuchtwangers 1940 erschienenem Roman mit einer breit aufge­fächerten Personage von Deutschen in Paris – emigrierten Künstlern und ihren Angehörigen, Journalisten, einem Zeitungsverleger, aber auch Nazi-Funktionsträgern im diplomatischen Dienst – brennt gleich in zwei Feuern: Einerseits der Frage nach Engagement und Widerstand der Exilanten, andererseits dem Problem des überlebenswichtigen Zurechtkommens im Ausland sogar unter den Umständen des Aufeinandertreffens mit den für diese Lage politisch Verantwortlichen. Das Sujet von Emigration und verzweifelter Unsicherheit während der NS-Zeit ist spätestens mit der Verfilmung von Anna Seghers’ für aktuelle Parallelen wiederentdecktem Roman „Transit“ durch Christian Petzold 2018 auch für die Bühnen interessant. Bereits ein Jahr davor brachte Stefan Pucher an den Münchner Kammerspielen eine Version von Feuchtwangers „Exil“ heraus. Beide Romane, damals zu unmittelbaren Zeiterfahrungen geschrieben, sind für die Gegenwart wieder bedeutsam.

Im Berliner Ensemble hat Annette Kurz aus einfachen Holzstühlen den unteren Teil des Eiffelturms gebaut, als Handlungsort und zugleich fragiles Wartesaal-Gebilde für die ­Situation der rund ein Dutzend Figurenschicksale. Feuchtwangers Roman wäre heute wahrscheinlich eine Miniserie in sechs Stundenfolgen und damit in der Opulenz seines Erzählens immer noch geraffte Kürze. Die Theateradaption von Sibylle Baschung und Luk Perceval entscheidet sich dafür, die Geschichte des Komponisten Sepp Trautwein und seiner Familie so zu fokussieren, dass sich alle Verästelungen von deren Pariser ­Milieu darum anlegen können. Trautwein ist ein moderner Komponist, der eher aus ästhetischen Überzeugungen – und daraus mangelnder Wirkungsmöglichkeit – Deutschland verlassen hat und sich als Journalist und Kommentator in die politischen wie wirtschaftlichen Auseinandersetzungen um eine deutsche Zeitung in Paris verwickelt. Die ­Sache ist kompliziert, und unterm Strich bleibt, dass ein Künstler, der sich in diesen Angelegenheiten engagiert, bei allem guten Willen und auch den menschlich großartigsten Loyalitäten nur verlieren kann. Trautwein komponiert seine „Wartesaal-Sinfonie“, deren Aufführung er erlebt. Am Ende verliert er aber die eigene Frau, nachdem der Sohn schon mit anderen Überzeugungen Richtung Sowjetunion davon ist. Das ist der existenzielle Perceval-Kern, der hier auf der Bühne freigelegt ist – und den Feuchtwanger auf 800 Seiten mit Skepsis gegen alle notwendigen Engagement-Überzeugungen gut verpackt hat.

Oliver Kraushaar spielt diesen Sepp Trautwein in bayerischen Tönen und mit einer Haltung gegen die Verhältnisse, die oft an Sepp Bierbichler erinnert: Auflehnung und Erkennen aus dem Dialekt heraus, trotzig auch zum Publikum hin – hinreißend. Die ersten Kritiken monierten, dass man sich so keinen wegen seiner Modernität exilierten Komponisten oder guten Journalisten vorstellen kann. Hat man schon Achternbusch und etliche andere bayerische oder österreichische Künstler-Querulanten im Dialekt vergessen? Kraushaar verkörpert zudem einen Menschen mit Heimweh in der Sprache, mithin ein Thema dieses Stücks. Das andere Kraftzentrum ist zweifellos Pauline Knof als lebenstüchtig aufbegehrende Frau des Komponisten, mit jedem Wort und jeder Geste berührend in einer Art langem mehrteiligen Monolog-Ausbruch bis zum Selbstmord.

Das ganze Geflecht von Politikbesprechung und vor allem die heute kaum noch nachvollziehbaren Nöte einer kleinen Zeitung unter Exilbedingungen mit wiederum politischen Gegeneinwirkungen und privaten Intrigen, das läuft in den zwischendurch von Ted Stoffer als Bewegungschor choreografierten Szenen mit geringerer Intensität im Vergleich zum letzten Großprojekt Percevals, der Belgischen Trilogie am NTGent. Eindrucksvoll ist anfangs die hyperrealistische Akustik der Stimmen – noch die leisesten Töne beim Sprechen sind für den von allen Figuren gefüllten Wartesaal beinahe überlaut verstärkt. Da trägt auch die Technik des Wechsels von innerem Monolog, Dialogpartikeln und erzählenden Teilen. Doch am Ende hat man den Eindruck, das Ganze habe sich aus einzelnen, beinahe isoliert wirkenden Figurenauftritten in dem für Perceval typischen Schwarz-Weiß-Licht (Rainer Casper) zusammengesetzt, das in diesem Fall die Verlorenheit von allen hervorhebt. //

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