Auftritt
Schauspielhaus Zürich: „Was die Form verliert, das nimmt sein Ende“
„Schwestern“ nach Drei Schwestern von Anton Tschechow – Inszenierung Leonie Böhm, Bühne Sören Gerhardt, Kostüme Zahava Rodrigo, Musik Lukas Vögler
von Anna Bertram
Assoziationen: Theaterkritiken Schweiz Leonie Böhm Schauspielhaus Zürich

Viel passiert nicht. Nicht auf der Bühne, nicht im Text, nicht im Schauspiel. Die Inszenierung „Schwestern“ von Leonie Böhm lebt von ihrer formalen Verweigerung. Die Regisseurin, die sich einen Namen mit dem zeitgenössischen Aufgreifen von Kanon-Werken gemacht hat, besetzt das Stück mit einem einzigen Mann. Und so beginnt der Abend fast beiläufig: Lukas Vögler macht sich in einer der vorderen Sitzreihen erkennbar und sucht Kontakt zum Publikum. Casual, in grauer Jogginghose und T-Shirt – das Outfit könnte ein Pyjama sein – quetscht er sich fast unbeholfen durch die Sessel und fragt ein paar Zuschauer:innen, wie es ihnen geht. Eine groteske Situation – nicht zuletzt, weil sich der eigentliche Theaterzauber schon beim Betreten des Raumes ankündigt: Mitten auf der Bühne steht ein gigantisch großer, schwarzer Panther. Zähnefletschend und angriffsbereit lauert er dort, sein Blick ins Publikum. Gerade so, als warteten die geschlossenen Augenlider des mechanischen Geschöpfes nur darauf, aufgerissen zu werden.
Doch die Wartenden bleiben wir – denn es passiert wider Erwarten nichts, das uns aus dem Hier und Jetzt herausholt. Das Publikum bleibt im hellen Saallicht sitzen. Es wirkt nahezu so, als wolle der Abend in seiner knappen Stunde durch Negation geltend werden: kein Gewicht, keine Kraft oder Geschwindigkeit. „Meine lieben Schwestern“, spricht Vögler zu uns, mehr redend als spielend, und fährt fort mit dem Sinnieren über das Unglück und die Einsamkeit, die in kompiliertem Text der Originalfassung vorgetragen werden. „In früherer Zeit waren wir zusammen laut und lustig, aber heute gibt es nur mich.“ Mal bekommt Vögler vom auf der Bühne platzierten Souffleur János Tee aus einer kleinen Thermoskanne eingeschenkt, singt Whitney Houston, schlendert im Publikum herum. Verlässt den Raum für eine Kippe ganz. Da er nicht weiß, wer er ist, weiß er auch nicht, wohin mit sich selbst. Erst bei seiner zweiten Gesangseinlage geschieht plötzlich etwas: Aus dem Publikum erwacht mit einem Mal ein Chor: Zwei Handvoll junge Menschen erheben sich aus dem Publikum und begleiten Vögler mit seinem Lied, einer Emulsion aus James-Bond-Titelmelodie und Choral. Erst später kann man über die Website erfahren, dass für die zukünftigen Vorstellungen dazu eingeladen wird, als Zuschauende Teil des Chores zu sein. Nicht in sich selbst scheint der Abend die notwendige Resonanz für Veränderung zu suchen, sondern in den Zuschauenden. Die Situation bleibt jedoch inszeniert, zu intendiert wirkt der Chor der heimlich Eingeweihten, als dass er als tatsächliche Einladung für Teilhabe im Raum stünde.
Der knapp einstündige Abend, ursprünglich 2021 als Online-Produktion während der Pandemie aufgeführt, behält auch in der gemeinsamen Anwesenheit den Charakter des Unfertigen. „Skizze“, wird der Abend im Programmheft genannt und fühlt sich nach einem Experiment zwischen Unterfangen und Ziellosigkeit an. Es ist nicht leicht zu dechiffrieren, was er genau will oder ist: „Schwestern“ möchte eher Performance als repräsentatives Theater sein, eher situationsbezogen als inszeniert. Und so ist Vögler zum einen als er selbst anwesend, gleichzeitig aber auch als Andrij, der Bruder der Tschechowschwestern, und letztlich auch als Schauspieler. Man will viel und ist gleichzeitig nichts. Das Dahinschwinden der Form bleibt die einzige Aussage und Erfahrung, die das Publikum macht. Irgendwann scheint es fast irrelevant, ob Vöglers Lethargie nun gewollt oder unbeabsichtigtes Bruchstück der Inszenierung ist: Es ändert an der Situation ja nichts. Wir werden Zeugin der sich auflösenden Gestalt des formellen Zustands.
Böhms „Schwestern“ ist Diskurs-Theater: Anstatt darzustellen, verliert der Abend sich selbst in Ohnmacht und Langeweile. Das Publikum aber wird mit der Reflexion alleingelassen, vermittelt wird nur noch die leere Form. Keine Sehnsucht nach etwas Besseren, keine Haltung, keine Welt. Der Abend bleibt richtungslos, und als könne nur das Publikum das letzte revolutionäre Subjekt sein, fixiert der schwarze Panther uns am Ende provokant, fordernd und bedrohlich. In ihrer Ästhetik bleibt die Inszenierung damit – verschoben, aber zwangsläufig – der Lethargie Tschechows Schwestern treu: Mutlos und sich jeder Verantwortung verweigernd, wird der Abend selbst zur Schwester. Die Unfähigkeit zur Aktion siegt. Und folglich darf man den Abend, zumindest mit einem politischen Anspruch, nicht bejubeln. Denn er vergisst, dass er trotz seiner Absage an eine Bühnen-Repräsentation doch repräsentativ bleibt: Für eine kulturpolitische Programmatik, die keine Verantwortung für ein Publikum übernehmen möchte. Die Dekadenz eines Bürgertums, das längst die Beziehung zur Welt verloren hat, vielleicht aber auch nie hatte, sie fällt auf den Abend zurück.
Erschienen am 31.1.2023