Theater der Zeit

Essay

Von Angesicht zu Puppengesicht

Gedanken zu „Solace“

Mit „Solace" erschafft die Numen Company von Uta Gebert eine trostlose, mysteriös verwüstete Landschaft, durch welche die Figur eines Kindes suchend streift, das statt mit Worten über Gesten und Blicke in Dialog mit rätselhaften Partnern tritt. Zu dieser Inszenierung unternimmt die Kulturwissenschaftlerin Claudia Schmölders, die zur Geschichte der Märchen wie auch der Physiognomik geforscht hat, einen Streifzug durch Theorien und schildert die Befragung des Gesichts durch das filmische Close-up: Was passiert da eigentlich, wenn menschliches Gesicht und Puppengesicht sich anblicken?

von Beate Absalon und Claudia Schmölders

Erschienen in: double 38: Face-Off – Politiken von Gesicht und Maske (11/2018)

Assoziationen: Praxiswissen Akteure Puppen-, Figuren- & Objekttheater

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Minutenlang sitzt man im Dunkeln. Etwas bewegt sich auf der Bühne, Geräusche und Töne huschen vorbei. Es wird heller, Umrisse zeichnen sich ab, schließlich ahnt man eine Art Lichtung mit Baumresten, erblickt einen Stumpf, rechts davor einen abgebrochenen, dicken, verzweigten Ast, von dem eine Haarsträhne herab weht. Es wird nochmals heller, und man erkennt auf dem Baumstumpf eine kleine Menschengestalt in Sweatshirt und Hose. Das Gesicht von einer Kapuze versteckt, in der rechten Hand einen Stecken, tastet das Geschöpf durch die Dämmerung, berührt nachdenklich, suchend, vielleicht ratlos mal den Boden, mal die Haarsträhne. Einmal findet es beim Stochern auf dem Boden ein kleines Radio, das sogar noch Töne abgeben kann, dann versinkt es wieder im Nichtstun. Und die Erde war wüst und leer, muss man denken; so könnte es nach dem Atomschlag auf Hiroshima ausgesehen haben. Eine Dystopie am Anfang, nicht am Ende einer Geschichte.

In den wenigen Momenten, in denen die Figur des Kindes im Licht erscheint, sieht man seinen Ausdruck: Ein blasses Gesicht, die großen glänzenden Augen gelblich, kränklich umrandet. Ein ewig offenstehender Mund, der die kleinen Zähne erblicken lässt, wie in einem Staunen oder Wundern eingefroren. Etwas „Zwitterhaftes“ ist in dieser Menschengestalt, die weder eindeutig männlich noch weiblich, weder lebendig noch tot zu sein scheint und zwischen kindlichem und erwachsenem Ausdruck oszilliert – ein Wesen an der Schwelle. Und auch die Welt, durch die es sich bewegt, ist solch ein Schwellenort zwischen Traum und Wachen. Oft und langsam und ratlos blickt das Kindergeschöpf in und durch diesen Raum, wir wissen nicht wohin und was genau es sieht, werden in der Langsamkeit aber auf unsere eigenen Sehprozesse zurückgeworfen.

Irgendwann hebt sich das Geschöpf plötzlich schwerelos in die Luft, bewegt dort, einsam angestrahlt, die Beine wie zum Fahrradfahren, verschwindet danach im Dunkel. So die erste Szene. Die zweite beginnt mit mehr Licht und einer längeren filmischen Einblendung: Ein Wald aus geraden, unversehrten Säulen oder Baumstämmen steht oder fließt vor dem Blick entlang, Sonnenstrahlen fallen schräg ein, plötzlich weht eine mächtig glänzende menschliche Haarmähne durch das Bild, manchmal mit Kopf, dann wieder nur Haar – aber immer gesichtslos.

Dritte Szene: Das Geschöpf ist erst einmal kaum zu erkennen. In einen Fellmantel gekleidet steht es mit einem Tierschädel in der Hand vor einem neuen großen, stark verzweigten Ast auf der linken Seite der Bühne. Es dreht und wendet den Schädel in seinen Händen. Das kleine Geschöpf steckt den Schädel schließlich auf den Ast. Es zieht den Fellmantel aus und erschafft so dem Schädel einen Körper – und sich selbst ein Gegenüber. Man kann (vielleicht soll man auch) denken an Kubricks „2001: Odyssee im Weltraum“, an die Entstehung der Menschheit aus Affenhorden, an das Hantieren mit Zweigen und Stöcken und Knochen, die in einer berühmten Szene hoch in den Himmel fliegen und dort zur Kaaba der Moderne mutieren.

Vierte Szene: Eine neue Geräuschkulisse, man hört jetzt das Meer an- und abbrausen. Man denkt sich an den Strand, man ahnt einen Schiffbruch, ein ausgesetztes zurückgelassenes Menschenkind. Es fängt an zu laufen, aber allmählich taucht hinter ihm ein riesiger Schatten auf, ein Menschenschatten, der dem Kind buchstäblich Beine macht, der es bewegt und zum Laufen bringt – eine Helferfigur oder eine Todesbotin? Schließlich erkennt man hinter dem Geschöpf eine schwarze Gestalt mit maskiertem Gesicht – die Puppenspielerin oder der Puppenspieler. Sich in heftige Bewegtheit steigernd hebt die spielende Person das Geschöpf vor ihre Augen und demaskiert sich. Analogien in der Erscheinung zwischen den beiden Figuren fallen auf. Der erwachsene Mensch – eine Mutter? – blickt nun auf das Kind, face-to-face, von Angesicht zu Angesicht und schließlich mit hell erleuchtetem Blick auch ins Publikum und verharrt. – Ende.

Die physiognomische Dyade

Ein Schwarm von Assoziationen lässt sich hier sofort nieder, bildlich wie literarisch. Der in der Inszenierungsdramaturgie angelegte Gang von der Dystopie zur Utopie, zum Happy End, ist bekannt aus den Märchen. Auch der Helfer gehört zum Märchen und natürlich das Kind, die kleine Gestalt. Eher zum Mythos gehört wohl die Szene der gnadenlosen Aussetzung: Man denkt an Ödipus oder auch an Paris, den Entführer der Helena. Beide werden von ihren Vätern ausgesetzt, weil sie die Herrschaft bedrohen, aber sie werden in der Legende von freundlichen Hirten oder Helfern aufgenommen und nicht getötet.

Weder zum Märchen noch zum Mythos gehören aber das Paar Puppe und Spieler*in und der Schluss dieser Performance: Das gegenseitige Erblicken vis-à-vis kommt der Herstellung einer physiognomischen Dyade gleich, die der Philosoph Peter Sloterdijk in seinem Hauptwerk „Sphären“ so hingebungsvoll beschrieben hat. Dort entwarf er eine dialogische Anthropologie aus dem Blickverkehr zwischen Mutter und Kind. Das „zärtlich aufgeheiterte Sichanleuchten von Mütter- und Kindergesichtern" legt eine Art Grundbaustein für „Zwischengesichtsräume" oder „interfaziale Sphären", in denen sich „auf magisch symbiotische Weise ineinander versenkt" werden kann. Blicken zwei Menschen sich in liebevoll-sorgender Zuwendung an, entsteht nach Sloterdijk ein intimer Raum, der die Gesichter gleichsam öffnet und der alles andere als trivial ist, da die Blickenden hier in einen „intersubjektiven Ausnahmezustand" eintauchen, in dem eine ursprüngliche, „immer schon verlorene und doch nie spurlos getilgte Zweieinigkeit" erlebbar wird.

Sloterdijks sinnbildlich beschriebenem „Zwei-Personen-Blutkreislauf" wohnt etwas Erhabenes inne, dem die ästhetische Gestaltung des Kindergesichts sich in diesem Spiel hier entzieht. Der offen stehende Mund, die gefärbten Augenringe und die blasse Gesichtsfarbe jedenfalls erzählen nicht das Märchen vom kulturellen Vorurteil des Schönen, das in der physiognomischen Wahrnehmungslehre mit Wahrheit und dem zugleich moralisch Guten identifiziert wird. Das schöne Gesicht kennt bis ins 16. Jahrhundert überhaupt keinen offenen Mund – weil die Menschen in der Regel schlechte Zähne besaßen. Das Motiv des offenen Mundes war grotesk und animalisch besetzt, gehörte also zum Clown, zum betrunkenen Bauern oder zu den Tieren – oder Geschöpfen der Unterwelt wie bei Hieronymus Bosch oder Dantes Höllenfiguren. Viel später dann, etwa um 1800 malte der französische Maler Delacroix, Anhänger der Revolution, Menschen mit offenen Mündern. Sein Gemälde des „Jungen Waisenmädchens am Friedhof" ist der Figur in „Solace“ nicht unähnlich, auch ihm scheint eine Trauer ins Gesicht geschrieben.

Im Beschreibungstext der NUMEN Company zu „Solace" wird darauf hingewiesen, dass im „wortlosen, gestischen Dialog zwischen dem Lebendigen und dem Objekt [...] auch immer die Frage [mitschwingt] nach dem Verhältnis eines jeden von uns zu seiner eigenen Einsamkeit, seinem Alleinsein". Agiert das Kind hier wie ein Spiegel, in den geblickt wird?

Geschichte und Zukunft des Gesichts

Doch wie steht es überhaupt um die Geschichte der Gesichter von Figuren und Dingen?

Vor rund hundert Jahren, 1924, erschien der Klassiker der physiognomischen Filmtheorie, „Der sichtbare Mensch“ vom ungarischen Kritiker Béla Balász. Alle Dinge haben nach Balász ein Gesicht. Inspiriert von der Welt der Märchen entwarf Balász damals eine These zur Physiognomie der Dinge; zur Anthropomorphisierung alles Sichtbaren in der filmischen Inszenierung, welche die Zuschauer*innen in einen kindlichen Erlebnismodus versetzt, eben weil die Dinge ihr „geheimnisvoll-geheimes Mienenspiel zeigen". Vor allem durch das Stilmittel der Großaufnahme werden nach Balász Menschen, Dinge und Landschaften gleichberechtigte Bedeutungsträger. Je größer die Nähe des Betrachters zum Objekt, desto größer die psychische Besetzung und desto dialogischer die Beziehung. In „Solace" verdoppelt sich dieses Verhältnis, insofern das Kind, selber animierte Figur, die Dinge seiner Umgebung zum Leben erweckt und ihnen ein Gesicht schenkt.

Das Ineinanderfließen von Ding und Gesicht wurde für die Ästhetik der Weimarer Republik geradezu rassistisch konstitutiv: vor allem mit Blick auf die Verwandtschaft von Erde und Mensch, von Boden und Gesicht, von Landschaft und Antlitz. War es ein Weg zur Verlebendigung – oder im Gegenteil zur terrestrischen Einfügung? Wer das „terrestrische Manifest“ von Bruno Latour aus dem Jahr 2018 kennt, muss der märchenhaften Wendung der szenischen Performance von „Solace“ von heute höchste Aktualität zugestehen. Die Erde, die Latour in höchster Gefahr durch menschliches Handeln sieht, zeigt sich hier auf der Bühne gleich eingangs als trostlos versehrtes, lichtloses Gelände, als Resultat eines menschlichen Tuns, als unverkennbarer Ausweis des „Anthropozäns“: Während die Puppe noch wirkt wie ein selbständiger kleiner Akteur. Aber hinter ihr steht, was Latour „Gaia" nennt, die wirklich leitende, lebende Mit-Spielerin. Sie nimmt das Geschöpf auf, sie führt es, sie übt mit ihm ein bewegliches Dasein -– und hofft auf Ansteckung mit Leben. Niemand weiß am Ende, ob es gelingt. – www.numen-company.com

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