Magazin
Das System des Theaters als System der Weißen
Das schwedische Kindertheaterfestival Bibu in Helsingborg
Erschienen in: Theater der Zeit: BRACK IMPERieT – „Hedda Gabler“ von Vegard Vinge und Ida Müller in Oslo (09/2022)
Assoziationen: Europa Kinder- & Jugendtheater

Schweden war schon immer ein Land, in dem die Rechte der Kinder großgeschrieben wurden. Schon vor 25 Jahren widmete sich eine UNESCO-Konferenz in Stockholm der Power of Culture von Kindern. Seitdem pilgern Aktivisten aus aller Welt in das nordische Land, wo der Geist der Kinderbuchautorin Astrid Lindgren gelebt wird, deren Konterfei auf einem 20-Kronen-Geldschein prangt, in dem die PISA-Studien konstant belegen, dass auch die Förderung von Kunst und Kultur zum Erfolg des Bildungssystems beitragen kann und in dem das Kindertheater dank kreativer Köpfe zur Avantgarde zählt. Grund genug, sich mal wieder vor Ort umzuschauen, beim Festival Bibu in Helsingborg.
Die Biennale der Darstellenden Künste für Kinder und Jugendliche fand nach den Jahren der Pandemie endlich wieder in Präsenz statt, präsentierte Aufführungen Made in Sweden, vor allem aber ein ambitioniertes Programm internationaler Inszenierungen, allesamt Produktionen von und mit indigenous people und im Kontext eines Diskurses der Internationalen Vereinigung des Theaters für Kinder und Jugendliche, der ASSITEJ, die im Rahmenprogramm ihr jährliches Artistic Gathering der UN-Agenda für nachhaltige Entwicklung widmete.
Nicht alles, was geplant war, konnte auch stattfinden: Visa-Anträge des südafrikanischen Ensembles Jungle Theatre Company wurden in letzter Minute nicht genehmigt, und einzelne Mitglieder der taiwanesischen Gruppe Tjucenglav Forum konnten wegen mehrwöchiger Quarantäneregelungen nicht anreisen. Doch Workshops und Filmdokumentationen gewährten Einblicke. Auffällig dabei, dass Choreografie eine große Rolle zu spielen scheint: „Beyond Sensation“ erzeugt mit fernöstlichen Klängen Stimmungen, die von jungen Tänzerinnen aus einem der 16 indigenen Stämme in Taiwan in zeitgenössische Kunst transferiert wird. Das Alte als auch das Neue bestimmen die Auseinandersetzung, „wenn man nicht weiß, wo man hingehört“, wie es von der Tourmanagerin formuliert wird.
Das Spiel mit dem Unerwarteten ist auch Gegenstand der Le Moana Dance Company aus Neuseeland in dem Tanzstück „Shel we“ nach einer Vorlage des amerikanischen Autors Shel Silverstein. Sechs Männer in Anzügen stürmen die große Bühne des Stadttheaters, Scheinwerfer gestalten die Rauminstallation, ein Zweig mit Blättern genügt, um zu imaginieren, wo man sich befindet. Und so einfach es erzählt wird: die Wiese ist grün, der Himmel blau und die Nacht dunkel, wird das Publikum immer wieder überrascht, es anders zu sehen, weil die Figuren ihr Dasein immer wieder neu entdecken. Der Choreograf Tupua Tigafua weiß das Ganze mit Humor zu inszenieren, selten ist so intergenerationell im Zuschauerraum gelacht worden.
Bewegend ist auch die Inszenierung „Saltbush“, eine Dreiviertelstunde von Deon
Hastie (Tanz) und Lou Bennett (Musik), aber auf ganz andere Art und Weise. Der australische Beitrag erzählt vom Land der Aborigines mit Infrarot-Kameras und einer ausgeklügelten Sensor-Technik. Schon die Vierjährigen dürfen mitmachen, von Licht zu Licht springen, Farben erfahren und Formen erleben. Interaktion ist erlaubt, ja sogar erwünscht, in der heißen Wüste, in der lauten Stadt oder am wilden Meer. Alles, was man von Down Under zu kennen glaubt, kommt vor: Känguru und Emu, Didgeridoo und Bumerang, Sonne und Sterne.
Das Skript stammt von Jason Cross, und er war gar nicht glücklich, dass diese dreizehn Jahre alte Produktion ausgewählt wurde. Er spricht voller Respekt von den Menschen der First Nation und offensichtlich schon lange nicht mehr von der kolonialen Stigmatisierung der Eingeborenen, er berichtet von einem radikalen Wechsel in den darstellenden Künsten, die nicht mehr über Colored People Geschichten erzählen, sondern dieses selbst zu Wort kommen lassen. „Wir sind Jahrzehnte zurück, was deren Repräsentation betrifft!“ Das System des Theaters sei ein System der Weißen. Und deshalb werde sich das Theater für Kinder auch ändern müssen, „wie auch immer die zukünftigen darstellenden Künste aussehen“.
Das sieht auch Ylva Lorentzon so, die in einer Begleitveranstaltung die Thesen ihrer Dissertation öffentlich machte. Noch immer würden die pädagogischen Dimensionen die Potenziale des Kindertheaters beeinflussen, sodass es einer Kulturpolitik bedürfe, die stärker das Künstlerische zur Entfaltung bringen möge. Am Zentrum für Kinderkulturforschung der Universität Stockholm haben die darstellenden Künste für junges Publikum offensichtlich ein kritisches Korrektiv – auch als neuer Impuls zur Rolle der kulturellen Bildung, der sicherlich über Schweden hinaus den Diskurs bereichern kann. //