Theater der Zeit

Die gehackte Sprache der Gaming-Generation

Wie Wilke Weermann als Autor und Regisseur Isolation und Realitätsverlust auf die Bühne bringt

von Elisabeth Maier

Erschienen in: Arbeitsbuch 2024: Werk-Stück II – Die neue Regie-Generation (07/2024)

Assoziationen: Wilke Weermann Deutsches Theater (Berlin)

„Unheim“ von Wilke Weermann in eigener Regie am Schauspiel Frankfurt, 2022 (UA). Bühne und Kostüm Johanna Stenzel
„Unheim“ von Wilke Weermann in eigener Regie am Schauspiel Frankfurt, 2022 (UA). Bühne und Kostüm Johanna StenzelFoto: Felix Grünschloß

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Der Supercomputer „Dave“ bringt die Welt des Programmierers Syz ins Wanken. Lässt sich Künstliche Intelligenz mit menschlichem Bewusstsein füttern? Die Frage reizt den Berliner Regisseur Wilke Weermann. In der Box des Deutschen Theaters Berlin hat er im ­Februar 2024 den Roman der österreichischen Erfolgs­autorin Raphaela Edelbauer auf die Bühne gebracht. Der 32-jährige Regisseur und Autor versetzt das Publikum in ein Setting, das einer Schaltzentrale gleicht. In dieser digitalen Welt essen und schlafen die Menschen nur, um möglichst schnell wieder in die virtuelle Welt fliehen zu dürfen. Eingesperrt in einen klaustrophobischen Raum, den Alexander Naumann geschaffen hat, versinken die Akteur:innen im ­Nebel. Sie sollen die Zukunft neu denken.

Doch in ihren grauen Uniformen wirken sie wie Relikte aus einer vergangenen Zeit. Als sie merken, dass sich für die KI keine eigene Persönlichkeit generieren lässt, wird Syz als menschliches Modell auserkoren. Nach seinem Abbild soll „Dave“ zur Menschen-Kopie werden. Aber lässt sich die ­Maschine eine Persönlichkeit aufzwingen? Im Spannungsfeld zwischen Mensch und Maschine bewegt sich die ­Romanadaption des Regisseurs.

Die Stücke, die er selbst schreibt, bewegen sich in der ­Lebenswirklichkeit der Gamer. Beim Zocken entspannt sich der reflektierte Künstler, daraus macht er keinen Hehl. „Mich ­haben Horror- und SciFi-Literatur geprägt, Weird Fiction, Mangas und Videospiele“, sagt der 32-Jährige. „Meine Theaterarbeit kreist um Themen von Isolation, Vereinsamung und Realitätsverlust in einer Welt, die von Digitalität bestimmt wird.“ Dafür findet er neue Formen auf der Bühne. Seine ­Figuren bewegen sich wie Avatare. Aufwändige digitale Technik oder Computersimulation sucht man bei ihm ver­gebens. Weermann arbeitet mit klassischen Mitteln. Seine virtuellen Welten werden in den Schreinereien der Theater nachgebaut. Selbst die Wundermaschine „Dave“ ist in der Box des Deutschen Theaters ein schwarzer Retro-Kasten. Mit solchen Brüchen spielt Weermann, der künstlerisch in der digitalen Welt zuhause ist. Dass er diese Entwicklung ­jedoch kritisch betrachtet, macht seine Arbeiten so überzeugend. Den Schauspieler:innen fordert der Regisseur „eine extreme Virtuo­sität“ ab, wie er sagt. Timing und strenges, kontrolliertes Körpertheater sind ihm wichtig, „weil alles extrem durch­getaktet ist“. Dieses stark stilisierte Spiel verblüfft. Die Sprache klingt manchmal wie gehackt, hallt so schrill nach wie aus der Konserve.

Wie sich die virtuelle Welt im Theater repräsentieren lässt, das erforscht der Autor und Regisseur auf vielen Ebenen. Als einer der Schauspieler in „Dave“ wegen Krankheit ausfiel, übernahm er in der Box des Deutschen Theaters an zwei Abenden selbst mit. Souverän und ohne Textbuch bewegt sich der Regisseur da auf der Bühne. Er habe so viel mit der Textfassung gearbeitet, „dass ich die leicht lernen kann“. Bei starkem schwarzem Kaffee hat er Textzeilen gepaukt. Dafür hat er seine Proben am Theater Münster zu Sibylle Bergs „RCE – #Remote Code Execution“ unterbrochen, reiste für ein Wochenende zurück in seine Wahlheimat Berlin. Da lebt er mit seinem Partner, dem Regisseur Ersan Mondtag, in einem ruhigen Viertel nahe dem Treptower Park. Bei Spaziergängen an der Spree bekommt er den Kopf frei. Dass sich immer mehr Bühnen für seine zukunftsweisenden Arbeiten begeistern, freut den jungen Regisseur und Autor.

Zupackend war der Absolvent der Akademie für Darstellende Kunst Baden-Württemberg in Ludwigsburg schon im Studium. Als er auf dem Campus in der schwäbischen Kleinstadt Regie studierte, richtete er mit anderen Studierenden das Furore-Festival aus. Da trafen sich internationale Gäste von Schauspielschulen und Theaterakademien aus Europa, tauschten sich über ihre Arbeiten aus. Da war der dynamische Künstler einer der Köpfe des Organisationsteams. Mit seiner pragmatischen Art hat er da jede logistische Herausforderung gemeistert. Doch die Stärke des besonnenen Norddeutschen ist die Kommunikation. Auf der Wiese des Campus saß er mit den Studierenden aus ganz Europa, tauschte sich über Perspektiven eines zeitgemäßen Theaters aus.

An der Theaterakademie begann Wilke Weermann, der 1992 in Emden geboren wurde, mit dem Schreiben. Seine eigenen Texte auf die Bühne zu bringen, die in digitaler Kälte erfrierende Sprache in Theaterbilder der Millennials zu übersetzen, das ist seine Stärke. 2014, als er sein Studium in Ludwigsburg begann, wurde sein erstes Drama „Abraum“ für den Retzhofer Dramapreis 2015 nominiert – in der düsteren Zukunftsvision zeigt er Menschen, die am Rand der Gesellschaft leben. In einem Steinbruch verstricken sie sich in ein Geflecht von Einsamkeit und Gewalt. 2016 gewann Weermann mit dem Text den Hauptpreis des Münchner Förderpreises für deutschsprachige Dramatik. Die Uraufführung an den Kammerspielen der bayerischen Hauptstadt wurde zum Körber Studio Junge Regie nach Hamburg eingeladen. Im Rahmen dieses wichtigen Wettbewerbs für den Regie-Nachwuchs war auch Weermanns frische, politisch durchdachte Lesart von Ernst Tollers „Der entfesselte Wotan“ (1923) zu sehen. „Kehren Sie Europa den vernarbten Rücken!“ Dieser Satz steht leitmotivisch für die Regiearbeit, in der Weermann Brücken zu seiner eigenen Gegenwart schlägt. In Tollers zeitkritischem Porträt eines bankrotten Friseurs spürte er Parallelen zu den zerfallenden Gesellschaften des Kontinents auf, wie er es heute erlebt. Da bleibt der gebeutelten „Letzten Generation“ oft nur die Weltflucht, auch ins Digitale. Diese Gefahr, in die gerade westliche Staaten driften, legt der Regisseur in seinen Arbeiten offen.

Konsequent formt Weermann seinen Regiestil, der ihn vom Mainstream abhebt. Als er 2018 am Schauspiel des Staatstheaters Stuttgart Ray Brandburys „Fahrenheit 451“ als Bachelorinszenierung realisierte, verortete er den Stoff aus den 1950er Jahren in einem zeitlosen Raum. Da wird die Feuerwehr nicht mehr zum Löschen von Bränden eingesetzt, sondern zum Verbrennen von Büchern. Bei der düsteren Dystopie arbeitete er mit der jungen Bühnenbildnerin Johanna Stenzel zusammen, die an der Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart studierte. Barock ausstaffierte Bühnenfiguren verleihen dem Theaterabend etwas von einem nostalgischen Horrorfilm. Mit dieser Bildersprache, die Sehgewohnheiten der Comic-Leser:innen bedient, rocken Weermann und Stenzel die Bühne. Neu und originell ist ihr Ansatz, sich der Bildersprache dieser populären Medien zu bedienen. Damit erreichen die zwei auch eine Generation, die Halt in Gaming und in digitalen Welten sucht.

Einen kongenialen Spielraum hat Stenzel für das Auftragswerk „Unheim“ geschaffen, das Weermann 2022 am Schauspiel Frankfurt produzierte. Mit opulent überzogener Pixel-Art reißt die visuelle Künstlerin das Publikum in einen Strudel der Schwarzen Romantik. Neonstreifen flimmern über Münder und Augenbrauen. Fremd und faszinierend wirkt die barocke Kulissenbühne. Bilder und Sprache ergänzen sich da wunderbar. Wie sehr Weermann die Doppelrolle als Regisseur und Autor liegt, zeigt diese Produktion. „Ich behandle digitale Inhalte mit analogen Mitteln, um sie sichtbar zu machen“, beschreibt der Regisseur sein Verfahren.

In einer Gated Community suchen Untote ihr Heil, indem sie sich Implantate einpflanzen lassen, die ihre Wirklichkeit mit virtuell erzeugten Wahrnehmungen überspielt. In dieser Welt bewegt sich Ira, die als Ermittlerin für anormale Phänomene tätig ist. In dem dystopischen Universum offenbart der 32-Jährige seine politische Tiefenschärfe: „Was die Menschen am meisten bedroht, sind die anderen Menschen. Und nicht mit ihren radikalen Überzeugungen oder mit Atomwaffen, sondern mit ihrer schieren Anwesenheit.“ Für diese Produktion wurde Weermann 2023 mit dem Kurt-Hübner-Regiepreis ausgezeichnet, den die Deutsche Akademie der Darstellenden Künste verleiht. Für den Literaturpreis Text und Sprache 2024, der vom Kulturkreis der deutschen Wirtschaft vergeben wird, ist er ebenfalls nominiert.

Das digitale Theater weiterzudenken, fordert den innovativen Regisseur heraus. Aber da seien den Künstler:innen enge Grenzen gesetzt. Denn nicht alle Theater hätten die Möglichkeit, digitale Projekte zu realisieren. Oft fehlen da die finanziellen Mittel ebenso wie Expert:innen, die mit der neuen Technologie adäquate Formate auf der Bühne schaffen. Über diese strukturellen Probleme setzt sich Weermann hinweg. In seiner Zeit am Mannheimer Institut für Digitaldramatik, das es inzwischen nicht mehr gibt, habe er gelernt, „wie schwierig es ist, dafür zu sorgen, dass alle Beteiligten dieselbe Vorstellung haben, was ein Format ‚digital‘ macht.“ Für die einen beginnt das schon damit, dass eine Vorstellung aufgezeichnet und dann im Internet gestreamt wird. Die anderen setzen Virtual-Reality-Brillen ein. Auch dass Shakespeares klassisches Liebespaar „Romeo und Julia“ eines Tages von Robotern gespielt wird, wäre für den 32-Jährigen denkbar. Fest steht für ihn, dass bei aller Offenheit und Leidenschaft für die digitalen Möglichkeiten Künstliche Intelligenz niemals die Schauspielkunst ersetzen kann. Dass die Grenzen der neuen Technologie eng sind, ist für ihn klar. Denn die KI könne zwar künstlerische Formate imitieren, zu erzählen habe sie nichts.

Seine eigenen Stücke auf die Bühne zu bringen, das gefällt Wilke Weermann. Ebenso liebt er es, neue Autor:innen für das Theater zu entdecken. Am E.T.A Hoffmann-Theater in Bamberg hat er die deutsche Erstaufführung von Kim de L’Horizons Stück „Hänsel und Greta & The Big Bad Witch“ inszeniert. Im Fokus auf der Gegenwart will Weermann aber nicht stecken bleiben. Da erweitert er seinen eigenen ästhetischen Horizont. „Die klassischen Stoffe in unsere Zeit zu übertragen, finde ich herausfordernd.“ Im Mai 2025 bringt er Heinrich von Kleists „Der zerbroch’ne Krug“ aus dem 19. Jahrhundert auf die Bühne. Dass dieses Stück von so vielen Regisseur:innen in die Komödienschublade verfrachtet wird, versteht er nicht. Mit seiner Neugier auf innovative Formate will er da einen anderen Ansatz finden.

Wilke Weermann, geboren 1992 in Emden, studierte nach einem Studium der Komparatistik und Philosophie an der Freien Universität Berlin ab 2014 Regie an der Akademie für Darstellende Kunst Baden-Württemberg in Ludwigsburg. Sein Drama „Abraum“ wurde 2015 für den Retzhofer Dramapreis nominiert und gewann den Münchner Förderpreis für deutschsprachige Dramatik 2016. Sein Theaterstück „Angstbeißer“ wurde 2019 mit dem Hans-Gratzer-Stipendium ausgezeichnet. Seine Bearbeitung und Inszenierung von „Fahrenheit 451“ wurde 2018 zum Festival Radikal jung am Münchner Volkstheater eingeladen. Beim Heidelberger Stückemarkt 2021 wurde er im Autor:innen-Wettbewerb mit seinem Stück „Hypnos“ nominiert. 2022 war er Stipendiat am Institut für Digitaldramatik am Nationaltheater Mannheim. Er inszeniert u. a. am Schauspiel Frankfurt, am Staatstheater Kassel, am E.T.A. Hoffmann Theater Bamberg und am Deutschen Theater Berlin.

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