I. Schauspielen
Von Herkunft und Wesen der Schauspielkunst
Quelle 2
von Julius Bab
Erschienen in: Lektionen 3: Schauspielen Theorie (12/2010)
Assoziationen: Theatergeschichte Schauspiel
Was also ist Schauspielkunst? Man bringt allzuoft die Geschichte des Theaters mit der der Schauspielkunst durcheinander. Aber das sind zwei sehr verschiedene Dinge! Das Theater ist eine sehr komplexe Erscheinung: zum Theater gehört das Haus, in dem gespielt wird, gehören die Bühne und ihre technischen Einrichtungen, gehört der Autor und sein Stück, gehört ein Publikum, das zuhört und bezahlt; zum Theater gehören außer den Schauspielern Musiker, Maler, Bühnenarbeiter, Büroangestellte, Platzanweiser und viele andere. Die Geschichte des Theaters ist also unendlich viel komplizierter als die der Schauspielkunst, die freilich nur als Teil des Theaters vorkommt. – Aber nun soll man auch nicht meinen, daß die Schauspielkunst, von der wir ja später allein reden wollen, nur ein Teil des Theaters ist wie viele andere. Schauspielkunst ist die Urzelle des Theaters, aus der alles andere sich entwickelt hat und ohne die alles andere im Grunde noch heute nicht leben kann.
Was man bei den abendländischen Völkern Theater nennt, hat sich ganz wesentlich wie unsere ganze Kultur aus der Kunst Griechenlands entwickelt. Aber neuere Berichte über primitive Völker in Afrika und Südamerika und Sibirien zeigen genau die gleichen Ansätze, aus denen Genie und Glück die Bühnenkunst Athens entwickelt haben: auf einem freien Platz, in einer Waldlichtung oder schon in der Mitte eines Dorfes versammeln die Frauen und Männer sich in einer gemeinsamen Erregung religiöser Art. Sie suchen Schutz vor der großen dunklen Lebensangst, die allen Naturmenschen innewohnt, denen ja wie uns noch Geburt und Tod so Gesundheit und Krankheit, Regen und Wind, Tiere, Pflanzen und Steine bedrückende Rätsel sind. Sie „verstehen“ nichts und wittern in allem böse Geister, die sie sich gnädig stimmen wollen. Sie beten, schreien, singen, tanzen – sie beschwören die bösen Geister, sie rufen die guten an. Und in der Mitte des Kreises springt ein Einzelner, ein Besessener, noch voller entzündet als die anderen und vielleicht schon durch soziale Gewohnheit als ihr Sprecher festgelegt: der Schamane, der Medizinmann, der Priester, der Sänger des Stamms. Er ruft den Dämon, den Gott an, und in der Ekstase |36|verwandelt er sich in ihn. Mit Wort und Gebärde spricht er zu dem Kreis der Erregten als der Dämon, der Gott, der Held, an den sie glauben. Und sie antworten ihm singend und tanzend. – – – Und da ist Schauspielkunst entstanden, da ist ein Dialog, da ist der Keim des Dramas und des Theaters. Der Mensch, den die Ekstase verwandelt und der durch Ansteckung seine Volksgenossen mitverwandelt, das war der erste Schauspieler, und das wird im Grunde genommen der letzte sein!
Im Wesen nicht anders ist es geschehen bei den großen Festen der Athener im 6. Jahrhundert v. Chr. in Eleusis, wo Dionysos, der große Gott der Fruchtbarkeit, geehrt werden sollte. Ein Abbild des Schiffs, auf dem er aus Asien herübergekommen war, war die erste Tribüne, war die Bühne, von der aus der Sänger im Namen des Gottes, als der Gott zu seiner Gemeinde sprach. Ihn umgab ein Kreis von Gestalten, tanzend im Bocksgewand – denn die Böcke waren Sinnbild der Fruchtbarkeit. „Tragos“ heißt auf griechisch der Bock – und das ist der Ursprung der Tragödie. Wie in jeder menschlichen Betätigung trat dann auch hier das ein, was der Soziologe Arbeitsteilung nennt. Der Sänger improvisiert nicht mehr in seiner Ekstase die Worte, die er zu sprechen hat, sie werden festgelegt durch besonders begabte Menschen vor dem Festakt – das heißt, der Dramatiker ist da, der dem Schauspieler seine Rolle vorschreibt. Auf dem erhöhten Schauplatz stehen nun bald mehr Sprecher, die miteinander handeln können, aber noch immer umgibt sie, wenn auch nicht mehr immer in Bockgestalt, ein Chor, der den Gefühlsüberschwang zwischen den Einzelsprechern und der großen Gemeinde vermittelt.
Der Schauspieler ist da, aber es darf nicht verkannt werden, daß dieser Schauspieler, der Tragöde in Athen, doch noch entscheidend von dem getrennt ist, was wir heute einen Menschendarsteller nennen: er steht, schon um in dem Theater in freier Luft sichtbar zu sein, auf hohem Kothurn, und er trägt vor dem Gesicht eine Maske, in die ein kleines Schallrohr eingebaut ist. Er kann also höchstens durch die Macht seiner Stimme und gewisse, sehr stilisierte Gebärden wirken, aber er hat überhaupt kein Mienenspiel und kann auch mit Stimme und Gebärde nirgends einem natürlichen Menschen gleichen. Bei diesem Träger der Ekstase, bei diesem ersten Tragiker fehlt das Moment der Naturnachahmung völlig.
|37|Aber nun entwickelt sich im Altertum neben der feierlichen, der immer gottesdienstlichen Tragödie bereits eine Volkskunst, deren Träger ganz auf das Moment der Naturnachahmung gestellt sind: das ist der Mimus. Auch diese Kunst stammt wahrscheinlich ursprünglich aus religiöser Gemeindehandlung, aber sie hat sich lange von ihrem Ursprung entfernt; der Mimus will die Menge belustigen durch spottende Nachahmung menschlicher Schwächen. Der „Mime“ hat nicht das unendlich schwere Gewand des Tragikers, er hat nicht die Masken, nicht den Kothurn, nicht das Sprachrohr, er stellt lebendige Menschen dar. Und hier treten sogar schon Frauen auf, die durch die Schwere der Ausrüstung, die man dort tragen mußte, schon körperlich von der tragischen Bühne ausgeschlossen waren. Hier also ist Menschendarstellung, aber freilich nur zu Spaß und Spott. Das ekstatisch-pathetische Element, das die tragische Bühne kennzeichnet, fehlt hier völlig. Das Altertum hat in seltsamer Trennung die beiden Elemente, deren Ineinander für uns den großen Menschendarsteller ausmacht.
Soweit das Mittelalter überhaupt Theaterkunst kennt, bleibt auch im christlichen Jahrtausend diese Trennung bestehen. Es bleibt ja sehr charakteristisch, daß sich auch unmittelbar aus dem christlichen Gottesdienst die „Mysterienspiele“ jener Epoche entwickelt haben. Und unter die Männer und Frauen, die dort feierlich agierten, drängten sich erst allmählich zu heiteren Randglossen die Gaukler ein, die sonst mit ihren Späßen und Schwänken das Volk der Schenken belustigten und etwas vom alten Mimus lebendig erhielten. Auch in diesem großen Abschnitt der Geschichte gab es etwas wie den ekstatischen Sprecher und den bloß belustigenden Naturnachahmer. Aber einer vollen Entwicklung der Bühnenkunst war die Gesinnung des Jahrtausends mit ihrer außerweltlichen Hauptbetonung allzu ungünstig.
Aber dann kam das große Jahrhundert der Renaissance – die Wiedergeburt der Freude am Menschen, Freude an seiner sinnlichen Erscheinung und an seiner geistigen Kraft. In Spanien und in England zugleich entsteht neues Theater – neues Drama und neue Schauspielkunst. Der große Shakespeare ist Schauspieler, wenn auch seine mächtigste Begabung die des Wortes ist. Aber was er der Welt als sein innerstes Erlebnis darzustellen wünscht, das ist diese große neue Freude am Menschen, Freude auch an seinem Schrecklichen und an seinem Lächerlichen – Freude an dem Erhabenen, |38|das schicksalgestaltend aus dem Menschen herausbricht. „Ist der Mensch so schön?!“ ist das letzte Wort, das in Shakespeares Werk von einer Frau gesprochen wird. Die ekstatische, die religiöse Erschütterung gilt jetzt der Erscheinung des Menschen selber. In seiner Nachahmung kann das Höchste und Letzte gesagt werden, was auf der Bühne gesagt werden soll. Erst seit Shakespeares Tagen gibt es Ekstase durch Menschennachahmung. Tragödie und Mimus fließen ineinander, und seitdem erst ist der Menschendarsteller da, so wie wir ihn heute empfinden. Die ganze Geschichte der Schauspielkunst in den letzten 400 Jahren ist im Grunde nichts als ein leichtes Schwanken zwischen beiden Polen pathetischer Ekstase und naturtreuer Nachahmung. Jeder schauspielerische „Stil“ drückt nur den Punkt aus, auf dem sich die betreffende Kunstübung zwischen diesen beiden Polen angesiedelt hat. Aber der rein Pathetische fällt uns als bloßer Deklamator ebenso aus dem Rahmen der Schauspielkunst wie der rein Nachahmerische als Possenreißer. Wo wir heute echte Menschendarstellungskunst empfinden, da ist (in welchem Mischungsverhältnis auch immer) ekstatische Hingerissenheit und nachahmerische Lust zugleich am Werk.
Von allen Irrtümern über die Schauspielkunst ist der schwerste und verhängnisvollste jener, der sich in der kleinbürgerlichen Prägung auswirkt: „Der Schauspieler ist der große Versteller“ – das heißt ein Mann, der die Fähigkeit hat, etwas vorzuspiegeln, was er nicht im mindesten ist. Das stimmt allenfalls für jene Imitatoren, die im Varieté auftreten und die durch Kostüm, Maske, Tonfall für einen Augenblick irgendeinem bekannten Mann ähnlich sehen können. Aber diese Geschicklichkeiten haben höchstens eine punktweise Berührung mit dem, was eigentlich Schauspielkunst ist. Das Höchste, was sie erreichen können, ist eine augenblickliche Verblüffung, und mit den seelischen Erschütterungen, die von großer Menschendarstellung ausgehen, haben sie auch nicht das mindeste zu tun. Viel näher kommt man der Wahrheit mit dem Satz, daß der Schauspieler der „wahrhafteste“ aller Menschen ist, daß er eine Fähigkeit und einen Willen hat, seine inneren Regungen äußerlich sichtbar zu machen – eine Fähigkeit und einen Willen, mit denen man freilich im normalen sozialen Leben nicht existieren könnte. Gewiß entfaltet der Schauspieler seine Wahrheit |39|erst auf das Signal hin, das ihm die Rolle eines dramatischen Dichters gibt – aber nur wenn in seinem Innern Leben bereitliegt, das in den dichterischen Umriß eintreten kann, wird ihm eine irgendwie bedeutsame Leistung gelingen, und daß er unter Umständen im allabendlichen Wechsel sehr verschiedene Leben aus sich heraufbeschwören kann, das bezeugt den ungewöhnlichen Reichtum an Lebenskräften in einem großen Schauspieler und zugleich die ihm eigene einzig schnelle Beweglichkeit, diese verschiedenen Kräfte ans Licht zu bringen.
Ich will ein Beispiel geben für den vollkommenen Unterschied zwischen Verstellungskunst und Schauspielkunst. Ich sah die berühmte Sarah Bernhardt, als sie schon 70 Jahre alt war, in ihrer berühmtesten Rolle als Kameliendame. Diese Marguerite Gautier soll ein Mädchen von höchstens 25 Jahren sein. Die alte Sarah war nun bemüht, sich mit Hilfe von Schminke und jugendlichen Kleidern in ein so junges Geschöpf zu verstellen. Das Ergebnis war geradezu schauerlich. Man hatte das Gefühl, eine aufgeputzte Leiche zu sehen – äußerste Unwahrheit. Aber dann begann Sarah Bernhardt zu spielen, und es begann das große alte Wunder der schauspielerischen Verwandlung. Stimme, Gestalt, Bewegung und Mienenspiel machten diese Frau in wenigen Minuten jung. Die Wahrheit, die in ihrem Innern lebte, die Fähigkeit, ein junges Geschöpf in Liebe und Haß, Glück und Verzweiflung, in Leidenschaft jeder Art zu sein – diese Fähigkeit trat ans Licht. Die innere Wahrheit wurde körperliche Sichtbarkeit, die junge Marguerite stand ergreifend vor uns. Die Verstellung war mißlungen, aber das Wunder der Schauspielkunst triumphierte. […]
Die Frage ist nun, wie kommt diese außerordentliche Leistung des Schauspielers zustande? Vor bald 200 Jahren hat der berühmte Meister der Französischen Enzyclopädie, Diderot, diese Frage in einer Weise beantwortet, die noch heute die Theaterfreunde nicht zur Ruhe kommen läßt und immer wieder Gegenstand lebhaftester Diskussion wird. In einem Dialog, der als das „Paradox über den Schauspieler“ berühmt geworden ist, erklärt Diderot: „Der gute Schauspieler bedarf keines Empfindungsvermögens, sondern nur des kalten Verstandes, um den Anschein der Sensibilität zu erwecken.“ Das Kernbeispiel, mit dem er seine Theorie rechtfertigt, nimmt Diderot von dem |40|größten französischen Schauspieler seiner Tage, von Lekain. Er sah ihn in der „Semiramis“ von Voltaire. Lekain spielte den Ninias, den Sohn, der im Grabmal des Vaters die eigene Mutter tötet und der dann (etwa wie der von Furien verfolgte Orest) aus dem Grabmal herausgestürzt kommt. Da sieht Lekain auf der Szene ein Schmuckstück liegen, das die ermordete Königin und Mutter vorher verloren hat, es stört ihn in seinen Ausdrucksbewegungen, er befördert es mit einem Fußtritt hinter die Kulissen und spielt weiter. „Also“, sagt Diderot triumphierend, „ist es ganz klar, daß ein Schauspieler, der so reagiert, gar nichts fühlt. Er ist keineswegs verwandelt in Ninias, den Sohn und Mörder – er ist der Schauspieler Lekain, der mit voller Überlegung den Schein eines Gefühls erwecken will und der Gegenstände beseitigt, die ihm bei der Ausführung seiner Absicht hinderlich wären.“ – Die Anekdote, die Diderot erzählt, ist sicher wahr, und beinahe jeder Theaterbesucher könnte sie aus seiner Erfahrung mit einer ähnlichen ergänzen. Aber die Folgerungen, die Diderot daraus zieht, sind doch von einer sehr primitiven Psychologie. Sie unterstellen eine Einfachheit und Einheitlichkeit der psychologischen Vorgänge, die anzuerkennen wir längst aufgegeben haben. Zunächst wissen wir, daß es gar nicht möglich ist, daß ein Schauspieler ohne Empfindung bleibt, denn selbst wenn er mit eiskalter Ruhe anfinge, Töne und Bewegungen zu setzen, die nur Empfindungen bedeuten sollen, so wissen wir, daß die Verbindungen von Gefühl und Ausdruckszeichen so eng sind, daß die Anwendung von Lachen auf die Dauer Heiterkeit, von Tränen auf die Dauer Traurigkeit erzeugen muß! Die Anekdote von dem großen alten Schauspieler, der an einem schönen Wintermorgen fröhlich ins Freie tritt und, durch die plötzlich einwirkende Kälte zu Tränen genötigt, in tiefe Melancholie versinkt, ist doch zum mindesten sehr gut erfunden. – Also der völlig empfindungslose Schauspieler ist überhaupt eine Unmöglichkeit, er ist aber nach allem, was ich bisher über Entstehung und Wesen dieser Kunst gesagt habe, auch gar nicht vorhanden. Der große Schauspieler ist von vornherein in einem ekstatischen Rausch, der ihn bis an die Grenze der völligen Verwandlung bringt. Allerdings – und darin steckt der richtige Kern von Diderots falscher Behauptung – nur bis an die Grenze. Ein Schauspieler, der sich völlig verliert, der etwa die Kraft seiner Stimme in der Erregung des zweiten Akts so aufbraucht, daß er im dritten |41|heiser ist oder daß er in blinder Rage die Kulissen umrennt, ein solcher Schauspieler ist ein Dilettant. Aber (was eben Diderots zu einfache Psychologie nicht weiß!) der Lekain, der das störende Requisit von der Bühne fegt, hat trotzdem die ganze Leidenschaft seiner Rolle. Es gibt im Schauspieler das, was am besten Friedrich Kayßler genannt hat: „das kleine wachsame Auge“, das den eigenen Körper und die Umgebung der Bühne kontrolliert, und inmitten aller Hingerissenheit, inmitten aller echten Verwandlung die Zusammenstöße vermeidet, die das Weiterspielen gefährden könnten.
Gäbe es nicht diese Notwendigkeit des kleinen wachenden Auges, so wäre es vollkommen unsinnig, Schauspielkunst lehren zu wollen. Jeder wirkliche Künstler weiß freilich, daß das Wesentlichste, das eigentlich Geniale, hier so wenig wie bei irgendeiner andern Kunst lehrbar ist. Aber es gibt in der Schauspielkunst genau wie in der Malerei und in der Musik ein Handwerkliches, das gelehrt werden kann und gelehrt werden muß. Das ist die Ausbildung der Stimme und der Gebärden, kraft deren ein Schauspieler dann ein Gefühl ausdrücken und übertragen kann, ohne daß vorzeitiges Verausgaben seiner Kräfte ihn unfähig macht, seine Rolle durchzuführen. Da ist der Umgang mit den vielen technischen Einrichtungen und Apparaten auf der Bühne, der geübt werden muß, wenn der Schauspieler in seinem Verwandlungsakt nicht greulich unterbrochen und gar lächerlich dementiert werden soll. Es muß also Theaterschulen geben.
Julius Bab: „Von Herkunft und Wesen der Schauspielkunst“, in: ders.: Kränze dem Mimen, Verlag Lechte, Emsdetten (Westf.) 1954; S. 7 – 14
Julius Bab (1880 – 1955) war ein jüdischer Dramatiker, Schriftsteller sowie Theaterkritiker der Weimarer Republik. Er gab von 1923 – 1932 die Dramaturgischen Blätter heraus und war an der Gründung des Kulturbunds deutscher Juden beteiligt. Er leitete dessen Theaterressort bis zu seiner Emigration 1938, danach war er als Theater- und Literaturkritiker für die New Yorker Staats-Zeitung tätig.