Theater der Zeit

Ausland

Läufer im Schnee

Der Schuss, der Schamane und die Weisheit der Frau – Das Akademische Sacha-Theater im ostsibirischen Jakutsk erzählt Geschichten aus der kältesten Stadt der Welt

von Dorte Lena Eilers

Erschienen in: Theater der Zeit: Feuer und Eis – Theater im ostsibirischen Jakutsk (01/2015)

Assoziationen: Asien Akteure

Der Fluss Lena in der Nähe von Jakutsk. Foto David Baltzer
Der Fluss Lena in der Nähe von Jakutsk.Foto: David Baltzer

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Wie läuft man durch unberührten Schnee? Durch dieses verwegene Weiß, das sich im Herbst über das Land legt und bis zum Sommer nicht weicht? Das in der Polarsonne glitzert wie Millionen Diamanten, doch wenn es schlecht läuft, einen wie Blei zu Boden zieht? Wie durchquert man dieses Eis, das bis zum Horizont verlängert in nicht allzu weiter Ferne die Beringsee erreicht? Einer nach dem anderen, der Theaterdirektor voran, in komischen Verrenkungen in die Fußstapfen des Vorhergehenden tretend, um ja nicht zu fallen? Oder jeder für sich, dem unwirschen Knirschen der eigenen Schritte lauschend, das sich ein paar Meter weiter mit dem rätselhaften Grummeln des Flusses vereint. Die Jakuten, Kinder des großen Flusses Lena, schrieb der jakutische Schriftsteller Suorun Omolloon, bergen ein jahrhundertealtes Geheimnis in sich. Es stamme aus einer Zeit, als es noch keine Zeit gab, und handele von Tod und Zerstörung, Asche und Rauch. Und vom Triumph, wenn das Leben gewinnt. Das mache jeden hier, auf seine Art, zum Dichter.

Es rumpelt. Und der Jeep neigt sich nach links. Panisch schaue ich David an. Doch der schaut unerschrocken nach vorn. „Lena“, ruft Anatoli Nikolajew und deutet mit dem Finger auf das Display des Radios, aus dem leise jakutischer Ethnopop erklingt. Minus 15 Grad. Der Direktor und sein Fahrer blicken mich erwartungsvoll an. „Brrr“, sage ich und umschlinge reflexhaft meine Schultern. Die beiden prusten los und fächeln sich Luft zu, als wäre ihnen warm.

Jakutsk, Hauptstadt Jakutiens, im äußersten Osten Sibiriens gelegen, wo Peking näher ist als die russische Kapitale, ist eine Stadt der Extreme. Während im Winter die Tränen bei minus sechzig Grad zu Eis gefrieren und der geangelte Fisch in dreißig Sekunden stocksteif ist, klettern die Temperaturen im Sommer auf bis zu plus dreißig Grad. Ein Temperaturunterschied, den ein Körper erst einmal aushalten muss. Trotz der heißen Sommer taut dabei der Boden nie gänzlich auf. Experten sprechen von Permafrost, der Poet sagt: Jakutsk liegt im ewigen Eis. „Halte dir den Oktober frei!“, hatte mir Lena Ivanova-Grimm im Mai 2014 gemailt. „Da eröffnet die Theatersaison mit den besten Inszenierungen.“ Nun stapfen wir eisatemumhüllt durch die Stadt: der Berliner Fotograf David Baltzer, Gernot Grimm, Lenas Mann aus Hamburg, Anatoli Nikolajew, Direktor des Akademischen Sacha-Theaters, und wir zwei. Lena, die Lena an die Lena einlädt, allein das hatte schon seinen Zauber.
Die gebürtige Jakutin, Absolventin des Arktischen Kunstund Kulturinstituts in Jakutsk, ist Regisseurin am Sacha-Theater, dem Nationaltheater der Jakuten, das mit seiner blassrosa Außenfassade und seiner wie Solarzellen wirkenden Fensterfront wie eine intergalaktische Polarstation aussieht. Die Antennenkonstruktion auf dem Dach, witzelt Gernot, könne bis in den Kosmos ausstrahlen. David grummelt: Da wisse er ja nicht, was er davon halten soll. Aber kein Wunder, seine Seele ist ja auch noch nicht rein.

Ein Glöckchen erklingt. Hell und leise, als wolle es den schweren Rauchschwaden, die in der Luft hängen, einen Kontrapunkt entgegensetzen. Oberund Unterwelt. In der Mitte wir. So wird es gelehrt. Anatoli Nikolajew hatte auf die Schnelle ein jakutisches Begrüßungsritual organisiert. Und das so schnell, dass unser sonst sehr schneller Fotograf nicht mehr schnell genug seine Sachen packen konnte und sich daher noch im Taxi befindet, als wir bereits im Kreis sitzend einen Mann im grauen Kaftan umkränzen. „Der Schamane“, flüstert Gernot mir zu. Da entflammt auch schon ein Feuer.

Wie läuft man durch unberührten Schnee? Suorun Omolloon schrieb, die Jakuten liefen aus der Sonne kommend ins Eis. Ursprünglich vom Baikalsee stammend, besiedelte das Turkvolk, das mit Jakutisch, einer Mischung aus Alttürkisch und Mongolisch, bis heute seine eigene Sprache spricht, im 13. Jahrhundert Sibirien und zog dann immer weiter gen Norden. Heute leben rund 500 000 Jakuten in der Region. Das Artschi, ein aus hellen Holzplanken gebautes Gebäude, ist so etwas wie ihr Gemeindehaus: Treffpunkt, Veranstaltungsort und spirituelles Zentrum, in dem Zeremonien abgehalten werden wie diese: ein Begrüßungsritual, bei dem ein Schamane mit Obertongesängen, Spenden an das Feuer und einem mit Pferdehaar und Glocken behangenen Stock unsere Seelen reinigt, um sie anschließend gegen böse Blicke zu verschließen. Eine Praktik, die der kommunistischen Führung in Moskau lange Zeit unbequem war. 1924 wurde Schamanismus unter Strafe gestellt als „besonders schädliches Phänomen“, das die kulturelle und nationale Wiedergeburt unterwandere. Einher gingen die Repressionen mit einem massiven Zuzug von Neusiedlern während der Sowjetzeit, vor allem Russen, Ukrainer und Weißrussen, die das zu heben gedachten, was den jakutischen Jägern, Pferde- und Rentierzüchtern – oftmals auch aus Respekt vor der Natur – damals nicht wichtig genug erschien: sagenhafte Bodenschätze wie Silber, Gold und Diamanten, von denen es heißt, Gott habe sie einst verloren, als ihm beim Überflug über die Gegend die Finger einfroren.

Derzeit leben allein in der 290 000-Einwohner-Stadt Jakutsk über 80 Volksgruppen, darunter Russen, Ukrainer, Ewenken, Ewenen, Tataren und Burjaten. Das Jakutische hat seit dem Zusammenbruch der UdSSR eine wahre Renaissance erlebt. Die Republik Sacha, wie die Region seit 1990 heißt, ist mit eigenem Präsidenten und eigenem Parlament teilautonom und mit einer Fläche so groß wie Indien das größte Föderationssubjekt der russischen Föderation. Moskau mit seinen territorialen Grenzkonflikten scheint hier auf seltsam weise Weise weit weg. „Wir sind weder ein echter Staat noch eine Kolonie“, hatte Vizepräsident Wladimir Nikolajew 1993 gesagt. „Wir sind etwas Unklares, das dazwischenliegt.“ So hätte auch die Antwort eines Künstlers klingen können. „Aber gibt es bei der Größe und dem Reichtum nicht auch separatistische Bewegungen?“, frage ich Anatoli Nikolajew. Der Direktor runzelt die Stirn. Politik verwirre den Kopf, sagt er. „Wir machen Theater, da geht es ums Herz.“
Das Sacha-Theater, 1925 vom Russischen Theater abgespalten, das nur ein paar Straßen weiter steht und interessanterweise bei ungefähr gleicher Größe staatlich wesentlich schlechter finanziert wird, besitzt seit 2001 sein eigenes Gebäude, zentral gelegen gleich neben der Statue Platon Ojunskis, dessen Namen das Theater trägt und dessen Stücke es spielt, simultan übersetzt ins Russische. Der Autor, geboren 1893, gilt als Begründer der modernen jakutischen Literatur, nicht nur wegen seiner eigenen Werke, sondern auch aufgrund seines Einsatzes für die Wiederbelebung der Schrift aller Schriften: des Oloncho, Urepos, Nationalmythos, UNESCO-Weltkulturerbe seit 2006, dessen einzelne Strophen, bevölkert von Kämpfern, Geistern, Göttern, Schamanen, jahrhundertelang nur mündlich weitergetragen wurden, singend, erzählend und dies oftmals tagelang von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang. Diese Enzyklopädie der Weisheit, wie Omolloon sie nennt, ist – natürlich in der Sowjetzeit verboten, Ojunski starb 1939 in stalinistischer Haft – der große Stolz vieler Jakuten. Im Theater gibt es ein eigenes Oloncho-Studio und bald, hofft Nikolajew, auch ein eigenes Gebäude. Doch unreflektiert ist die Beschäftigung mit Naturreligion oder Götterglaube dadurch nicht.

Schlotternd und zähneklappernd steht der dicke Daddy auf der Bühne. Sonderbare Gestalten umkreisen ihn, langmähnige Schattenwesen, Gespenster des Waldes. Platon Ojunskis „Der ein Kind wollte“ erzählt in kernigen Szenen von einem Ehepaar, das sich ein Kind wünscht, während die Nachbarn mehr als genug davon haben. Es geht um Frauentausch, frivole Liebeshändel und einen Deal mit den Göttern – der sich später als Fake entpuppt. Eine Gesellschaftskomödie mit doppeltem Boden, ein Molière’scher „Amphitryon“ invers, in dem nicht der Gott den Gatten mimt, sondern die Gattin den Gott, um ihren Gatten am Schlips seines Glaubens zu packen. So schummelt sich unter Lena Ivanova-Grimms Regie immer wieder Widerständisches durch die Fröhlichkeit, blitzt zwischen den kurzen Szenen hervor, in die sie auch ihre Inszenierung von E.T.A. Hoffmanns „Klein Zaches“ zerlegt hat. Schnelle Takes, deren Erzählung sich auf der kargen Bühne – nur ein knorriger Baum ist zu sehen – weitgehend über Bilder transportiert: ein kleines schiefbuckliges Manschgerl mit krausem Haar – abgründig gespielt von Isabella Nikolajewa, der Frau des Direktors –, das, von einer Fee verzaubert, eine steile politische Karriere hinlegt. Ein jakutischer Manga, bei dem man sich auch hier in Jakutsk, wo zwar Graffitis Putin als „Last Dictator“ persiflieren, aber auch viele sein Einiges Russland wählen, fragt, wer denn wohl dieses krummbeinige Kerlchen ist, das da so gierig mit einer großen Silberkugel spielt und alle, die ihm in den Weg kommen, wegstößt? Putin? Ein Apparatschik? Ein Oligarch? – Oder Merkel. Gernot sagt: Findet ihr nicht, dass er ihr sehr ähnelt?

Ein Schuss aus nächster Nähe

„Brunhilde!“, sagt Sergej und schaut mich an, als meine er mich. Damit sind die Rollen in der Unterwelt erst einmal klar. Sergej Potapow, Absolvent des GITIS, der legendären Theaterakademie in Moskau, danach zurückgekehrt in seine Heimat, ist wie Lena fester Regisseur am Haus und wie sie Teil der, so sagt man hier, verlorenen Generation, die während der neunziger Jahre aufwuchs, als sich nach dem Zusammenbruch des großen Ganzen die Leute um die größten Brocken vom nicht mehr ganz so großen Ganzen kloppten. Auch in Jakutsk brannten immer wieder Geschäfte und Restaurants, wurden Schutzgelder erpresst und wieder verprasst. Jeder jakutische Regisseur, sagt Sergej, habe Erfahrung mit dem Tod. Sätze, die sitzen. Und davon kennt er viele. Vielleicht deshalb hat ihn die Theaterleitung in die Unterwelt verbannt, ein Büro im Keller des Hauses, in dem er uns im fahlen Schein eines Monitors seine Kurzfilme vorführt: Zwei greise Männer, die sich mit glühendem Zorn wegen einer älteren Frau duellieren. Ein jugendlicher Läufer im Schnee, der stolpernd und schnaubend einer Party nachjagt, doch als er sie erreicht, ist sie vorbei und der Läufer uralt. Irisierende Bilder, die, sommers wie winters draußen gedreht, in der Tradition von Andrej Tarkowski und Nuri Bilge Ceylan stehen und die Protagonisten dort aussetzen, wo es am unwirtlichsten ist: in der wilden, geisterhaften Natur. Auf unwegsamem Gelände.

Nebel umhüllt die hölzerne Schräge. Ein Viereck wie ein Spielbrett, an dessen Seiten lauernd die Kämpfer stehen. Am Sacha-Theater hat Sergej aus Shakespeares „Titus“, einem der blutrünstigsten Stücke der Theatergeschichte, ein zwielichtiges Schachspiel generiert, bei dem die Spieler auf der Spielfläche zwar agieren, jedoch auf unheimliche Weise wie von unsichtbarer Hand gelenkt. Schach als Spiel der Mächtigen. Strategisches Gedankenspiel mit barbarischen Folgen. Wie rutscht eine Gesellschaft in den Krieg? Wie entsteht dieses entmenschlichte Gemetzel? Diese Fragen lassen den 39-Jährigen nicht los. Sie sind wie die Kugel, die einem ein Leben lang im Körper sitzt. So zumindest beschreibt der russische Autor Wladimir Sorokin den Zustand des Schreibens: Getroffen von einem Schuss aus nächster Nähe, werde ein Schriftsteller diese Kugel nie los. Eine Verletzung, mit der sich auch gutes Theater machen lässt. Dunkel, existenziell, mülleresk, die Schrecken der Geschichte auf die Bühne schleifend, damit sie nicht wiederauferstehen.

„Wie tritt man einen Weg in unberührten Schnee?“ Warlam Schalamow schrieb, sie liefen Schulter an Schulter. „Durch den Schnee. Erzählungen aus Kolyma I“ zählt neben den Schriften Alexander Solschenizyns zu den wichtigsten Zeugnissen aus dem GULag sowjetischer Zeit – und zu den wenigen. „Eine Schande“, sagt Waleri Schadrin. Und er sagt es so plötzlich, dass die Gespräche über Ballett, Oper, Verdi am Tisch abrupt verstummen. Der vogelwilde Pressesprecher, der uns zuvor mit Verve durch die Gänge der Jakutsker Oper geführt hat, in Ballettproben schleuste und vor Fernsehkameras platzierte – „Sagt ,Guten Morgen, Jakutsk‘ und winkt in die Kamera“ –, verharrt in zerstobenem Ernst. Gefangenenlager – die gab es allein um Jakutsk herum zu Hunderten. Die Straße nach Magadan wird auch Straße der Knochen genannt, gepflastert mit den Leichen derer, die sie einst bauten. Geschichte zum Drüberbrettern. Planiert. Betoniert. Geglättet. Nichts erinnert mehr an sie. Man müsste graben. Forschen. Das müsste man, sagt Schadrin. Daher würde er jedem, der das tun wolle, seine Wohnung zur Verfügung stellen. Sofort.

Schwungvoll schießen wir an einer Gruppe Teenies vorbei, die kurzberockt im Theaterfoyer an der Balustrade stehen und sich kichernd ihre Selfies ansehen. Theaterdirektor Anatoli Nikolajew stürmt voran, einen großen Holzschlägel in der Hand, mit dem er gerade – ein weiteres Ritual – fast David niedergeknüppelt hätte. „Wer dem Schlag standhält, darf bleiben“, rief er fröhlich und ließ die Ankündigung, ganz Theatermann, im Raum stehen. Was erzählt ein Theater, wenn es mit Stücken wie „Dschingis Khan“ in der Regie von Andrej Borissow von den großen Dramen der Gegend erzählt? Wenn der Regisseur dieses Stücks bis vor wenigen Tagen noch Minister eines Ministeriums war, das sich tatsächlich Ministerium für Kultur und seelische Entwicklung nennt? Wenn der Direktor höchstpersönlich, während sich Merkel und Putin verkeilen, mit seinen Gästen – „Jetzt in die Pelzfabrik?“ – durch die Innenstadt fährt? Wenn es in einer Stadt spielt, die trotz des Eises und der Kälte, trotz des Flusses und fehlender Brücken eine Stadt ist wie jede andere, in der geliebt wird und gehasst, getanzt wird und gerappt, gesoffen und gezofft?


Wir stehen vor einem Gemälde, das über und über mit verknäulten Kämpfern gefüllt ist. Nur in der Mitte hält jemand schützend eine Kerze in der Hand. Das ist, ins Romantische gedreht, der Punkt. Was passiert mit diesem einzigartigen Vielvölkerstaat Russland, in dem rund 100 Völker mal recht, mal schlecht koalieren? Was passiert mit einer Gegend, die so nah am Handelspartner China liegt, der ökonomisch gesehen so viel größer ist und immer weiter wächst? Was passiert mit einer Föderation, deren staatlicher Zusammenhalt, vermutet Sergej, bald weiter zerfällt? „Die Kämpfer wissen nicht, warum sie kämpfen“, sagt die Mitarbeiterin der Nationalgalerie. Der Direktor würde sagen: Die Kerze sind wir. Theater. Kultur. Permanentes Nachdenken über das Wirrwarr Mensch. Sacha heißt Mensch auf Jakutisch. Die Republik Mensch. Das Akademische Menschentheater. Mehr Erklärung braucht es fast nicht. Oder doch?

Das Licht der weißen Sonne

Ein Ächzen erklingt. Dann ein Schlag. Unter einem kahlen Mond besiegeln Eteokles und Polyneikes ein Schicksal. Beide werden sterben, doch nur einer wird begraben. Gesetz ist Gesetz. Sagt das Gesetz. Lenas „Antigone“ betritt einen Raum, der hinter Paragrafen und Verordnungen liegt. „Jeder Mensch hat eine Seele“, sagt sie. Auch Polyneikes. Und darum gehe es in dem Stück. Um die Rettung seiner Seele. Doch wie inszeniert man dieses unsichtbare Ding? Lena hat dafür eine Form gefunden, die, obgleich tief aus der jakutischen Philosophie geboren, diese in großer Klarheit abstrahiert. In schwebenden Choreografien bewegen sich Antigone, Ismene sowie ein Chor aus lauter Frauen über die Bühne. Glutäugig, stoffumspielt, Sophokles’ Text in Obertongesängen durch die Luft schlängelnd. Sie habe, sagt Lena, für die Inszenierung den jakutischen Rhythmus des Fließens gewählt. Langsame Bewegungen, die sie aus dem Turuk gewonnen habe, einer Technik leichter Trance, die von Schamanen verwendet wird und einen hypnotischen Raum erzeugt, der bis in den Zuschauersaal reicht. Ein Zustand, so Lena, als erschaffe die Seele ihre Form selbst. Umso ernüchternder ist die Erdung am Schluss. In der letzten Szene, übernommen aus der Fassung von Jean Anouilh, sitzt Antigone im Gefängnis und spricht mit ihrem Wärter. „Ich werde sterben“, sagt sie. „Ich mache nur meinen Job“, antwortet dieser. Ein Dialog, brisant über seine Kargheit hinaus. Denn die Menschenrepublik ist auch eine Männerrepublik. Schon als Frau Regie zu führen ist nicht selbstverständlich. Zumal bei einem Stück, bei dem die Frau und auch der Chor am Ende schweigt.

Der Schnee – weiß wie ein blankes Blatt Papier, weit wie eine leere Bühne. Wie durchquert man dieses Eis? Lena, die einige Zeit in Deutschland gelebt hat, Stipendiatin des Internationalen Forums beim Theatertreffen der Berliner Festspiele war, bringt immer wieder neue, eigene Ideen mit nach Jakutsk. Im Sommer 2014 lud sie für einen Workshop Stefan Kaegi ans Haus; zusammen mit Gernot soll ein Zentrum für zeitgenössisches Theater entstehen. Auch ein Inklusionstheater, das erste in der Region, haben sie gegründet. In Lenas Inszenierungen verweben sich dadurch Tradition und neue Formen auf eindringliche Weise. „Das Licht der weißen Sonne“, ein politisches Requiem über die Zwangsumsiedlungen der Tschuraptschener Jakuten durch das Stalin-Regime zwischen 1942 und 1944, bei denen die Hälfte von ihnen starben, arbeitet mit Videoeinspielungen, in denen eine Zeitzeugin spricht. Eine Inszenierung, die aus irgendwelchen Gründen nicht lange lief. Dabei ist es ein Laufen, das Kunst und Landschaft verbindet. Lena sagt: „Die Menschen haben hier so lange in der Kälte und der Natur gelebt, dieses Wissen gilt es zu bewahren.“ Auch ihr Urgroßvater, erzählt sie, sei unter den Vertriebenen gewesen. Er war Schmied, was in der jakutischen Kultur bedeutet: ein spiritueller Philosoph, also Schamane. Ein Foto zeigt ihn mit zusammengekniffenen Augen und einer Pfeife in der Hand in die Kamera blickend. Mit einer Weisheit, die so viel älter ist als dieses Foto. //

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