Theater der Zeit

Brief

Vielleicht ist jeder Anfang ein Schock

Ein Mailwechsel über das Ringen um internationale Theaterbeziehungen zwischen der Regisseurin Emre Koyuncuoglu und der Dramaturgin Viola Hasselberg

von Viola Hasselberg und Emre Koyuncuoglu

Erschienen in: Arbeitsbuch 2017: Heart of the City II – Recherchen zum Stadttheater der Zukunft (06/2017)

Assoziationen: Regie Europa Dramaturgie

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Liebe Emre!

Meine Kolleginnen und Kollegen haben mich gefragt: „Wie hast du Emre eigentlich kennengelernt?“ Ich habe von meiner ersten Reise nach Istanbul erzählt, im Juli 2007 direkt nach den Wahlen. Damals warst Du die Leiterin des kleinen, innovativen Stadttheaters in Izmit. Ich erinnere mich an unsere ersten Gespräche über Geschichte, Europa und ein Projekt, in dem Du mit Kindern gearbeitet hast, das dann in unterschiedlichen lokalen Besetzungen von Diyarbakır über Hamburg nach Amsterdam reiste.

Ich möchte Dir sagen, was Du uns bedeutest. Du stehst für uns auf einem politischen Beobachtungsposten und bist Übersetzerin einer uns sehr vertrauten und gleichzeitig fremden Kultur. In unserer ersten gemeinsamen Produktion „Nathan schweigt“ haben wir zum Thema Glaube und Toleranz recherchiert, auch Deine persönliche Interpretation des Islam spielte dabei eine Rolle. Du warst schon damals irritiert über die Islamophobie in Europa. Eine weitere Freiburger Recherche fand zu dieser Zeit parallel statt: Unsere Schauspieler forschten im Rahmen des Projekts „Cabinet. Ein türkisch-deutscher Theaterbazar“ zu türkischen Ikonen. Das Ensemble saß inmitten sprechender Papageien in der Lobby eines heruntergekommenen Istanbuler Grand Hotel. Du warst ständiger Gast in dieser Runde, hast unsere Verwirrung kommentiert und uns beraten. Du konntest uns auch erklären, warum wir ein Jahr später in Istanbul mit der Vorstellung von „Cabinet“ einen solchen Skandal erregten: Zwei Grandes Dames der Kulturszene standen mitten in der Vorstellung auf und beschimpften uns, wir würden ihre Nationalhelden diffamieren.

Eine Qualität unseres Dialogs ist der Brückenschlag zwischen Außen und Innen. Du hast eine Außenperspektive auf Europa eingenommen, wir eine Innenperspektive, und manchmal waren wir beide blind. Du bist aber auch ein künstlerischer Spiegel für uns, Du hast eine scharfe politische Beobachtungsgabe, auch wenn Deine künstlerischen Ausdrucksformen für uns manchmal „erstaunlich“ sind. Die Zusammenarbeit bedeutet eine Herausforderung für uns, eine sehr wertvolle, trotz der Missverständnisse, die manchmal entstehen. Du bist nicht zuletzt eine Künstlerin mit Einblicken in verschiedenste Produktionsformen, mit den Erfahrungen Deiner Zeit als Leiterin der experimentellen Sparte des Municipal-Theaters in Istanbul. Es wäre fantastisch gewesen, mit Dir auf dieser Ebene unsere Zusammenarbeit weiterzuentwickeln. Die politischen Umstände haben uns einen Strich durch die Rechnung gemacht.

Grüße von Viola

Liebe Freiburger Kolleginnen und Kollegen!

Wenn ich über die türkische Theaterlandschaft und ihre Kulturpolitik nachdenke, habe ich das Gefühl, immer anzuecken und nicht dazuzugehören. Ich komme dann an den Punkt, zu glauben, dass all die Jahre meiner Arbeit wertlos waren, dass ich kein Publikum erreicht und keinen Bezug zu den Menschen hergestellt habe, dass ich als Theatermacherin hier in der Türkei gar nicht existiere oder nicht existieren kann. In diesen Momenten höre ich Eure Stimme, die mich ermuntert weiterzumachen und mir den Glauben an meine Arbeit zurückgibt. Besonders in den letzten Jahren ist diese Bespiegelung und Unterstützung von außen wichtig geworden, weil bei vielen Künstlern und Akademikern hier in der Türkei das Gefühl entstanden ist, alleingelassen und ausgeschlossen zu werden.

Ich war wirklich sehr angetan von Euren Überlegungen zum Stadttheater der Zukunft. Sie waren ein Anstoß für mich, darüber nachzudenken, wie man in Zukunft noch Theater in der Türkei machen kann, wo wir doch so sehr mit dem Hier und Jetzt beschäftigt sind, dass wir gar keine Zukunftsprojektionen mehr wagen. Ich habe angefangen, Utopien für das türkische Theater zu entwerfen. Die Frage, wie man künftige Generationen erreichen kann und wie diese aussehen, ist ein sinnvolles Gedankenexperiment für Theatermacher, vor allem auch im internationalen Vergleich.

Ich fühle mich immer ein bisschen unpassend in Eurem reibungslos funktionierenden System. Ich funktioniere nämlich nicht wie ein System. Je öfter ich aber mit Euch zusammenarbeite, desto mehr löse ich mich von dieser Vorstellung. Inadäquatheit war ein Gefühl, das mich anfangs bei „Nathan schweigt“ stark beherrscht hat. Lessing für ein Publikum zu bearbeiten, das mit Klassikern aufgewachsen ist, mit einem Ensemble zu arbeiten, das von Kindesbeinen an mit Ideen der Aufklärung vertraut ist, war eine große Herausforderung – und eine Konfrontation. Aber vielleicht ist jeder Anfang ein Schock. Ich habe an bestimmten Interpretationen festgehalten, die Euch fremd waren. Ich habe versucht, Lessing mit einer fremden Sprache zu überschreiben, um das Publikum ganz neu mit diesem Stück in Kontakt zu bringen.

Bei „Eurotopia“ war ich dann freier, entspannter und risikofreudiger, weil ich das Gefühl hatte, dass wir als Künstler alle gleich waren. Am Ende habe ich Euch mit „Silent Migration“ meine Geschichte erzählt. Ich hasse es, in den Modus der Beschwerde zu fallen, obwohl ich versuche, bestimmten Haltungen und Kulturen kritisch zu begegnen. Besonders wenn ich in Europa arbeite, sehe ich mich mit der Erwartung konfrontiert, mich beklagen zu müssen, nur, weil ich aus „so einem Land“ wie der Türkei komme. Dabei möchte ich einfach nur ehrlich sein, ohne auf eine bestimmte Rolle reduziert zu werden, auf die „Türkin“, eine „Muslima“ oder „Europäerin“. Es ist besser, sich von diesen Zuschreibungen frei zu machen, auch wenn damit natürlich ein hoher Anspruch formuliert wird. Bei Euch konnte ich mich dieser Herausforderung stellen: Zwar waren viele Gespräche nötig, aber ich konnte mich auf die Kontinuität unserer Zusammenarbeit verlassen.

Wenn wir Europa zum Gegenstand der Reflexion machen, ist das pure Theorie, die mit der gelebten Realität nichts zu tun hat. Mit unseren künstlerischen Kooperationen verbinden wir jedoch Theorie und Praxis, wir teilen einen theoretischen Horizont und realisieren gleichzeitig die Praxis des Miteinanders. Auf der Suche nach neuen Wegen sollten Politiker sorgfältiger zuschauen, was wir Künstler tun. Ihre Nöte finden sie auf unseren Bühnen. Internationale Theaterprojekte sind deshalb nichts anderes als ein Labor für die Politik und unsere Gesellschaften der Zukunft.

Grüße von Emre

Liebe Emre!

Welche dramaturgischen Prozesse sind für Deine Arbeit im Umfeld eines deutschen Stadttheaters interessant?

Grüße aus Freiburg!

Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Beide Erfahrungen („Nathan schweigt“ und „Eurotopia“) waren sehr wertvoll für mich. In beiden Produktionen habe ich allerdings auch einen noch stärker ausgeprägten Dialog vermisst, nicht nur während des Probenprozesses, sondern auch die Konfrontation außerhalb der Proben. Ein solcher Dialog hätte uns gegenseitig befruchtet, hätte ein stärkeres Verständnis und kreativere Ergebnisse zutage gefördert. Künstler brauchen diese Zeit miteinander. Auch bei „Eurotopia“ hätten wir mehr Zeit benötigt, um als Regieteams miteinander ins Gespräch zu kommen. Dieser Austausch hinter der Bühne hätte dann auch stärker auf der Bühne sichtbar werden können, wir hätten ein stärkeres Bewusstsein für die anderen Perspektiven entwickeln können, statt nur die Bühne zu teilen, ohne miteinander zu kommunizieren. Diese Utopie sollten wir dann in einem nächsten Projekt wirklich umsetzten. Habt Ihr das Gefühl, dass mit „Eurotopia“ eine Utopie real wurde? Seid Ihr zufrieden mit dem Ergebnis? Für mich war dieses Projekt ein Experiment. Wie schätzt Ihr die Publikumsreaktionen ein?

Grüße von Emre

Liebe Emre!

Dass unser Stück eine Utopie sein wird, haben wir nie gedacht, obwohl der Titel „Eurotopia“ das scheinbar vielen versprochen hat. Dass Zweifel und Sarkasmus einen so großen Raum einnehmen, hat uns andererseits auch überrascht. Viele Künstlerinnen und Künstler haben uns irgendwann erklärt: Als Künstler muss ich Pessimist sein, als Bürger bleibe ich Optimist. Du warst die einzige Künstlerin, die aufgrund ihrer aktuellen Lebenssituation in der Türkei gesagt hat: Ich kann mich nur utopisch formulieren. Dass die Aufführung jetzt aus acht eher tastenden, die Abgründe der Wirklichkeit auslotenden Statements besteht, finde ich persönlich ehrlich und angemessen. Ich hätte mir genau wie Du gewünscht, dass „Utopia“ im Sinne des gemeinsamen Nachdenkens, der Begegnung aller Künstler jenseits der Bühne, viel mehr stattgefunden hätte, weil genau das geradezu notwendig ist in dieser Gegenwart. Eine unserer Thesen, mit denen wir zu Projektbeginn auf Euch Künstler zugingen, hieß: Wir brauchen mehr kollektive Einbildungskraft und Querverbindungen durch Staaten, Milieus und Köpfe. Du fragst nach Zuschauerreaktionen. Die zahlreichen jungen Zuschauer, die kamen, konnten „Eurotopia“ viel abgewinnen, waren zum Teil sogar enthusiastisch, genauso gab es viele ältere Zuschauer, die immer wieder geäußert haben: „Es bringt mich zum Nachdenken, tagelang, ich schreibe die Geschichten durch meine eigenen Erfahrungen weiter.“ Man darf andererseits nicht verschweigen, dass der Abend für viele Zuschauer, die eine klassische Inszenierung erwartet haben – und auch für manche Theaterkritiker – schwer konsumierbar und beliebig blieb. Und dann bleiben die ganzen fremden Ästhetiken, sämtliche Inhalte völlig unter dem Wahrnehmungsradar. Für mich ist das künstlerische Ergebnis „Eurotopia“ nicht perfekt, aber in seiner Heterogenität und Aufgebrochenheit als Theaterabend sehr persönlich und in jedem Fall relevant. Ich glaube tatsächlich, dass man für diese Art „Zuschauen“ beim Stadttheaterpublikum ein paar andere Voraussetzungen schaffen müsste: einen Rahmen, ein inszeniertes Gespräch?

Grüße von Viola

Meine lieben Kolleginnen und Kollegen aus Freiburg!

Das Theater Freiburg hat die zeitgenössische freie Szene in Istanbul durch Koproduktionen mit türkischen Künstlern geprägt. Der Weg, den wir gehen müssen, ist allerdings noch weit. Wie könnte unsere Zusammenarbeit angesichts der gegenwärtigen politischen Umstände fortgeführt werden? Versucht Euch einmal in meine Lage zu versetzen, wie würdet Ihr hier in der Türkei noch Theater machen, an das Ihr glaubt? Ich weiß natürlich, dass Ihr das Publikum, die Geschichte und die Kulturpolitik hier vor Ort nicht kennt – es soll auch nur ein Gedankenspiel sein!

Emre

Liebe Emre!

Deine letzten Fragen treiben mich wirklich um, gerade wenn man eine gegenseitige Wahrnehmung und Beeinflussung meint und internationale Arbeit nicht primär als Star-Import versteht. Wenn jetzt die politische Situation in der Türkei immer schwieriger wird, wäre die Fortsetzung der künstlerischen Zusammenarbeit wichtiger denn je. Da aber alle öffentlichen Räume offenbar verschwinden, ist fraglich, wer in der Türkei jetzt noch mit einem deutschen Stadttheater zusammenarbeitet. Setzt man auf nichtkommerzielle Studiotheater? Verzichtet man auf öffentliche Aufführungen und macht gemeinsame Workshops, Recherchen? Spielt man in Privatwohnungen und verlegt die sichtbaren Aufführungen ausschließlich nach Deutschland? Arbeitet man als deutsches Theater mit der türkischen Community hier vor Ort, auch wenn diese gespalten ist? Du fragst, was wir täten, wenn wir heute in der Türkei weiter Theater produzieren würden, an das wir inhaltlich und künstlerisch glauben. Es übersteigt tatsächlich meine Vorstellungskraft, und ich kann nur völlig naiv antworten. Ich war bis April 2015 zwanzig Mal in Istanbul. Du sagst, ich würde es heute nicht mehr erkennen. Die Institutionen sind nicht mehr offen, also wäre meine Fantasie ein Zusammenschluss von interdisziplinären Künstlern, die sich zusammen einen Ort suchen, ein Laboratorium abseits des Zentrums, die berühmte offene Halle am Goldenen Horn, unterstützt von uns Freunden im Ausland. Hast Du das nicht einmal vorgehabt? Vielleicht ist das völlig unmöglich oder auch unbefriedigend, weil es so stark nach Rückzug klingt? Was meinst Du? Bis bald!

Viola

Übersetzung aus dem Englischen von Angela Osthoff.

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