Theater der Zeit

Landvermessung: der Osten

Ey, Puppe!

Knast & Kasper alias Central Rixdorf – ein anarchisches Puppentheater im Berliner Brennpunkt Neukölln

von Frank M. Raddatz

Erschienen in: Theater der Zeit: Wölfin im Schafspelz – Die Schauspielerin Constanze Becker (05/2013)

Assoziationen: Thüringen Sachsen-Anhalt Sachsen Akteure

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Ostermontag. Nachmittags. Am Alexanderplatz. Da ich die Adresse des Theaters vergessen habe, frage ich bei der DB-Auskunft nach einem Puppentheater in Rixdorf. „Rixdorf“, so werde ich belehrt, „gibt es seit hundert Jahren nicht mehr! Das heißt jetzt Neukölln!“ „Versuchen wir es unter ‚Knast & Kasper‘!“, schlage ich vor. Der Uniformierte wird fündig, beginnt aber zu fluchen. Telefonnummer – ja. E-Mail-Adresse – kein Problem. Ebenso Programme und Preise. Aber keine Ortsangabe. Jetzt ist sein Ehrgeiz erwacht, und schließlich leitet mich ein Ausdruck mit detaillierten Fahrplanangaben zum Böhmischen Platz.

Dort hat Artur Albrecht gerade in der Kneipe gegenüber eine Wirsing-Nuss-Suppe gekocht. Jetzt bereitet er die Nachmittagsvorstellung vor. Passend zu den Feiertagen steht „Ein falscher Hase“ auf dem performativen Speisezettel. Der Hase ist in Wirklichkeit ein Krokodil und keineswegs böse, sondern ziemlich hilfsbedürftig, weil das Ei mit seinem Nachwuchs entwendet wurde. Kasper kann helfen, wird aber final in ein iPhone verwandelt. Die dreißig anwesenden Kinder sind begeistert. Und ihre zahlreich vertretenen Eltern ebenso. Jedes Stück wird in der Regel nur einmal gespielt. Es gehört zum Prinzip, laufend Aktuelles vom Kiez in die Improvisationen einzubauen. Ob Böhmische Straße oder Comenius-Garten, permanent wird mit lokalen Bezügen jongliert. Manchmal spielt auch König Buschi eine tragende Rolle. Gemeint ist nicht George Bush, sondern der hiesige Bürgermeister: Bösewicht Heinz Buschkowsky. Von daher kratzt es Albrecht auch wenig, dass die Deutsche Bahn seine Adresse nur unter großem Aufwand ausfindig machte: „Die Leute hier wissen Bescheid!“

Viel stärker wundert ihn, dass heute sieben Zuschauer aus Prenzlauer Berg anreisen. „Wir befinden uns hier in Neukölln Nord. Ist dir das ein Begriff?“ Ich schüttle den Kopf. „Vor einigen Jahren schrieb die BZ über die gefährlichsten Ecken Deutschlands. Dort drüben begann eine No-go-Area. Die andere Seite wurde von Gangs beherrscht.“ Offenbar wurden in der Zwischenzeit einige Maßnahmen getroffen, damit die soziale Hefe nicht weiter hochgeht. Weder Kinder noch Eltern lassen sich sogenannten bildungsfernen Schichten zuordnen. Zusammen mit Henriette Huppmann mietete Albrecht 2007 bewusst im Brennpunkt eine ehemalige Drogerie für das Kaspertheater. Da die beiden damals noch regelmäßig im Frauengefängnis Neukölln inszenierten, nannten sie das Ganze kurz entschlossen Knast & Kasper bzw. K & K VolkArt. Das klingt politisch renitent. Irgendwas zwischen Monarchie und Anarchie, ist aber in Wahrheit eine Hommage auf die Schauspielerlegende Volker Spengler. Mit Spengler als Regisseur arbeitete Albrecht nach seinen Lehrjahren im kommunistischen Theaterkollektiv Rote Rübe jahrelang zusammen. Später spielte er in den Filmen und Inszenierungen von Christoph Schlingensief.

Irgendwann fragte ihn Dietmar Roberg, der Mann von Irm Hermann, ob er es nicht mal mit einer Puppe versuchen wolle. Nach einem halben Jahr war er drauf und dran hinzuwerfen: „Der Kick muss direkt durch den Arm zu den Zuschauern gehen. Mit einer ganz kleinen Bewegung packst du sie. Ich habe ein Jahr gebraucht, bis mir das zum ersten Mal gelang.“ Seine Klientel schätzt ihn. Anfangs musste man sich noch daran gewöhnen, dass die Hexe auch mal den Kasper mit dem Akkuschrauber an die Wand heftet. Doch mittlerweile ist das Central Rixdorf, wie die Bude nun auch heißt, immer voll. Wenn dann noch eine Magieshow samt Essen dazukommt, ist zumindest die Raummiete verdient. Der Laden steht auch anderen Puppenspielern offen. No limits. „Wenn die Absolventen der ‚Ernst Busch‘-Schule hier mal anfragen, sind die herzlich willkommen.“ //

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