Bericht
„Wir brauchen Zusammenarbeit“
Überlegungen zur Puppenspielausbildung in den nordischen und baltischen Ländern
Im Rahmen des Baltic Visual Theatre Showcase Tallinn fand ein Symposium zur Lage der Ausbildung im Bereich Visuelles Theater und Puppentheater statt. Leino Rei brachte ein Statement zur Ausbildungssituation in die Diskussion ein, das sich zum einen aus seinen Beobachtungen als Festivalchef, zum anderen aus seiner eigenen Arbeit als Darsteller und Regisseur am Estnischen Theater für junges Publikum in Tallinn speist.
von Leino Rei
Erschienen in: double 46: Networking – Netzwerkmodelle im Figurentheater (11/2022)
Assoziationen: Puppen-, Figuren- & Objekttheater Europa
Vor einigen Jahren wurde bei einem Seminar im Rahmen des Internationalen Puppentheaterfestivals in Finnland im Gespräch plötzlich deutlich, dass zur Zeit weder in den nordischen noch in den baltischen Ländern Puppenspielkunst auf Universitätsebene gelehrt wird.
Das Verschwinden der Puppentheater-Studiengänge
Die Ausbildung von Puppenspieler*innen und Puppenspielregisseur*innen in diesen Ländern war insgesamt relativ vielseitig – mit einer Mischung aus Spezialausbildung bzw. Studium, konventioneller Theaterausbildung, Studioausbildung, Kurzzeitkursen und beruflich erworbenen Fähigkeiten. Hochschulen mit einem speziellen Studienangebot für Puppentheater gab es bis vor einiger Zeit in den meisten Ländern Skandinaviens und des Baltikums.
In den letzten Jahren jedoch wurden alle Studiengänge der Puppenspielkunst eingestellt. Die Schulen selbst wurden nicht geschlossen, aber das Lehrfach Puppentheater wurde in andere Disziplinen integriert und etwa mit Multimedia-, Schauspiel- oder Körpertheater-Ausbildung kombiniert. Die Puppentheaterausbildung ist in der zeitgenössischen Ausbildung der Darstellenden Künste aufgegangen.
In dieser Situation stellt sich die Frage: Kann das Puppentheater als eigenständiges Genre aufrechterhalten werden, wenn der nachwachsenden Generation eine umfassende Ausbildung im Puppenspiel fehlt?
Gleichzeitig ist zu konstatieren, dass sich die Anforderungen an eine zeitgenössische Puppentheater-Inszenierung verändert haben: Über welche Fähigkeiten müssen moderne Puppenspieler*innen entsprechend verfügen? Sollte die universitäre Puppenspielausbildung Studierende möglichst universell zu einer Mischung aus guten Schauspieler*innen und Puppenspieler*innen ausbilden, deren Werkzeugkästen auch Materialtheater, digitales und multimediales Theater, Maskentheater, physisches Theater usw. umfasst? Oder wäre es klüger, eine spezifische Basisdisziplin anzubieten, auf der Techniken verschiedener Theater-Genres aufgebaut werden können?
Die Idee eines nordisch-baltischen Curriculums
Wenn man sich das Problem der Puppenspielausbildung in den baltischen und nordischen Ländern insgesamt ansieht, wird klar, dass es nicht mehr möglich ist, dass alle nur „ihr eigenes Ding machen“. Wir brauchen Zusammenarbeit. Ein Ausbildungsprogramm ist teuer und es ist schwierig, es kontinuierlich aufrechtzuerhalten. Der Bedarf an neuen Puppenspieler*innen ist von Land zu Land unterschiedlich, aber es ist sicher, dass derzeit kein Land alle zwei Jahre eine ganze Absolvent*innenklasse zum Einsatz bringen kann. Würde aber die Ausbildung nur alle fünf Jahre angeboten, müsste die Schule jedes Mal neu aufgebaut, müssten die Lehrpläne überarbeitet und modernisiert, Lehrer*innen gefunden werden. Es scheint daher logisch, die Einrichtung einer gemeinsamen Akademie in einem der Länder zu erwägen, ein internationales Lehrprogramm, das alle Bilder- und Puppentheater in den Partnerländern mit Puppenspieler*innen, Regisseur*innen, Puppengestalter*innen und anderen Künstler*innen des Genres versorgen könnte.
Bei der Diskussion über diese Themen im Symposium „Challenges of Visual Theatre Makers in the 21st Century, das vom Baltic Visual Theatre Showcase veranstaltet wurde, haben wir versucht zu ergründen, ob tatsächlich Bedarf für eine solche gemeinsame Schule besteht und ob es Menschen gibt, die bereit sind, zur Verwirklichung dieser Idee beizutragen. Ebenso wollten wir wissen, was realistische Möglichkeiten für eine solche Schule wären.
In der an das Symposium anschließenden Diskussion über die Chancen einer gemeinsamen Institution, die dazu beiträgt, die akademische Puppenspielausbildung in allen baltischen und nordischen Ländern am Leben zu erhalten und dabei den Gesamtaufwand zu optimieren, suchten wir nach konkreten nächsten Schritten. Wir kamen zu dem Schluss, dass die Gründung einer gemeinsamen Schule zu ehrgeizig und arbeitsintensiv wäre, während eine realistischere Möglichkeit darin bestünde, das Projekt mit den Theaterschulen in den drei baltischen Staaten zu diskutieren.
Unsere Idee ist, das moderne Puppenspiel und andere Mittel des visuellen Theaters in den Lehrplan für Schauspiel zu integrieren. Für junge Schauspieler*innen wäre es eine wertvolle Möglichkeit, über die Beschäftigung mit zeitgenössischem Puppenspiel und visueller Theaterkunst einen spezifischen Zugang zur Abstraktion zu finden.
Die Überlegungen gehen dahin, dass es in jedem baltischen Staat eine Theaterschule geben könnte, die Puppentheater als Fach in ihr erstes Studienjahr integriert. Darauf aufbauend könnten wir länderübergreifend gemeinsame Kurzzeit-Workshops zu verschiedenen Arten des visuellen Theaters für die Studierenden organisieren. Und im letzten Jahr würde eine der Abschlussproduktionen jeder Theaterschule sich dem zeitgenössischen Puppentheater widmen.
In Estland haben wir dieses Modell bereits fast zufällig erlebt. Mirko Rajas, der künstlerische Leiter des Estnischen Theaters für junges Publikum, das größte Theater in Estland, das regelmäßig Puppentheater produziert und das gesamte Spektrum des visuellen Theaters nutzt, unterrichtete Studierende in ihrem ersten Jahr an der Abteilung für Schauspiel der Estnischen Akademie für Musik und Theater im Fach Puppenspielkunst. Ursprünglich sollten sie vier Jahre lang darin unterrichtet werden, aber dann änderten sich die Pläne der Hochschule, und die Puppenspielausbildung endete nach einem Jahr. Dennoch setzten die Studierenden in ihrer Abschlussaufführung Puppen ein. Rajas kam zu dem Schluss, dass dieses Modell gut funktionierte – es hat gute Theaterschauspieler*innen hervorgebracht, von denen einige auch als Puppenspieler*innen erfolgreich sein könnten. Auf dieser oder einer ähnlichen Basis eine internationale Zusammenarbeit in Form von weiterführenden Workshops mit genrespezifischen Inhalten zu etablieren, könnte sich als äußerst nützlich für die Puppenspielszene der nordischen und baltischen Länder erweisen.
– Aus dem Englischen von Anke Meyer und Tim Sandweg