Auftritt
Hannover: Alles nichts Konkretes
Schauspiel Hannover: „Aufzeichnungen aus dem Kellerloch. Bei nassem Schnee“ nach der Erzählung von Fjodor M. Dostojewski. Inszenierung Lukas Holzhausen, Bühne und Kostüm Katja Haß
von Lina Wölfel
Erschienen in: Theater der Zeit: Henry Hübchen (02/2022)
Assoziationen: Sprechtheater Theaterkritiken Niedersachsen Schauspiel Hannover

Fjodor Dostojewskis „Aufzeichnungen aus dem Kellerloch“ wurden erstmals 1864 in der Zeitschrift Epocha veröffentlicht. Die Erzählung ist in zwei stilistisch sehr unterschiedliche Teile geteilt: Die „Aufzeichnungen aus dem Kellerloch“ im ersten Abschnitt sind essayistisch angelegt. Der zweite Teil, „Bei nassem Schnee“, ist erzählerischer und wird wesentlich seltener für die Bühne adaptiert. Hauptfigur und Ich-Erzähler ist ein ehemaliger Beamter mittleren Alters, der sich selbst als bösartig, verkommen und hässlich, aber hochgebildet beschreibt. Aus Aggression und Rachsucht dem modernen Menschen und der von ihm geschaffenen Gesellschaft gegenüber zieht er sich in ein feuchtes Kellerloch zurück. Dort verfällt er in seine eigene Verlorenheit, steigert sich immer weiter in Zynismus und genüsslichen Selbsthass.
Hajo Tuschy sitzt für diesen Monolog des ersten Teils in Feinripp-Unterwäsche und kackbraunen Wollsocken auf einem kratzig anmutenden Stuhl, mitten auf einer erwartungsgemäß auf die Technik reduzierten Bühne (Bühne und Kostüm: Katja Haß). Er kommt dabei nur langsam in die polemische, existenzialistische Haltung von Dostojewskis Antihelden. Vor allem am Anfang verschenkt Tuschy viel Zeit daran, manisch mit den Füßen zu zucken, sich angestrengt mit der Hand über den Oberschenkel zu reiben und dabei zart stotternd mit belegter Stimme den Dostojewski-Text wiederzugeben. So richtig in Fahrt kommt der Abend erst durch Wolf List, der zunächst als Diener des Kellerbewohners auftritt – damit dieser noch einen hat, nach dem er treten kann –, sich später aber immer mehr als dessen Hirngespinst entpuppt und schließlich mit seinem Herrn verschmilzt. List stachelt den Kellerbewohner an, reizt ihn und hält ihm doch „nur“ den Spiegel seiner eigenen Gedanken vor: „Du behauptest, dich hier zu entblößen, und willst doch nur gefallen“. Ein gefälliger und dennoch glücklicher Regieeinfall Holzhausens.
Davon gab es leider nicht allzu viele. Der Abend bleibt überwiegend bei der Blaupause Dostojewskis. Auch der Versuch, im zweiten Abschnitt eine „moderne“ Übertragung des Textes vorzunehmen, scheitert. Dort schildert der Kellermensch zurückliegende Episoden aus seinem Leben, die sein Scheitern auf beruflicher Ebene sowie im zwischenmenschlichen Bereich und in seinem Liebesleben exemplifizieren. So beschreibt er etwa ein Treffen mit alten Schulfreunden (gespielt von Bernhard Conrad, Fabian Dott, Léo Mathey, Zabi Tajik), die sich im Gegensatz zu ihm alle in gehobenen und abgesicherten Positionen befinden, ihn zwar zu einem Essen einladen, aber nur, um ihm noch herablassender zu begegnen. Aus dem Essen wird bei Holzhausen eine schwammige Party-Sequenz, der undifferenziert Textfragmente aus „Atlas Shrugged“ der amerikanischen Philosophin und Radikalegoistin Ayn Rand untergemischt wurden. Klar, Rands Ansichten passen zu denen der ehemaligen Schulfreunde, treiben diese auf die Spitze. Aber sie sind weder modern – Ayn Rand publizierte hauptsächlich Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts – noch machen sie die Erzählung komplexer. Der Versuch wirkt eher, als hätte man ein angetautes Schokoladeneis mit Schokosauce getoppt: Es schmeckt intensiver, bleibt aber ein brauner Einheitsbrei. Fraglich ist auch, wer den Fremdtext, so fragmentiert wie er eingestreut wird, überhaupt erkennt. Selbstverständlich ist Rand ungebrochen aktuell, ihre Theorie des radikalen Egoismus hält auch heute noch dem Neoliberalismus sein erschreckendes Spiegelbild vor. Es gibt aber durchaus zeitgemäßere Positionen, wie die einer Eva von Redecker zum Ökosozialismus oder eines Robin Celikates zur Solidarität, die den Abend genauso theoretisch eingebettet hätten, ja, dem Kellermenschen vielleicht sogar einen Ausweg hätten liefern können. Dafür aber hätte Holzhausen etwas riskieren müssen, sich trauen, die Blaupause Dostojewskis auch anzuwenden.
Dieser halbgare Mut zieht sich bis in die letzten Szenen des Abends. In einem ultimativen Hilfeschrei folgt der Kellerlochbewohner seinen ehemaligen Schulfreunden in ein Bordell, wo er die Sexarbeiterin Lisa trifft. Holzhausen besetzt die Rolle der Lisa mit Fabian Dott, der sie überraschend empathisch, wenn auch klischeehaft spielt. Dennoch bleibt fraglich, wieso Lisa überhaupt von einem Mann gespielt werden musste. Allein den Schauspieler:innen-Körper auszutauschen, verändert nicht die Rollensetzung. Lisa bleibt eine weiblich gelesene Rolle, die innerhalb der Erzählung und auch in Holzhausens Inszenierung männlicher Gewalt zum Selbstzweck ausgesetzt ist. Einfach einen Mann diese Rolle spielen zu lassen, ist gefährlich: Es verschleiert das Problem. Und so bleibt das Kellerloch am Ende doch nur ein Kellerloch mit wenig Ausblick und Weitsicht. //