Theater der Zeit

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Schöne neue Welt? Gedanken über die neue Generation des zeitgenössischen Tanzes in Ungarn von Csaba Králl

von Csaba Králl

Erschienen in: Theater der Zeit: Unter Druck – Das Theater in Ungarn (04/2018)

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In Ungarn ist zeitgenössischer Tanz ein viel zu vertrackter Sammelbegriff, als dass man ihn ausschließlich als ästhetische Kategorie oder als Synonym für Progressivität deuten könnte. Sowohl der Ballettdirektor aus der Provinz betrachtet sich als zeitgenössischer Tanzschaffender (weil er hier und heute lebt und arbeitet) als auch der freischaffende Choreograf, der das neoklassische Ballett mit einigen modernen Elementen ergänzt. Ebenso der freie Ensembleleiter, der epische, auf literarischen Vorlagen beruhende Tanzstücke präsentiert, wie auch der Ballettdirektor eines Opernhauses, der sich mit den dreißig bis vierzig Jahre alten Hans-van-Manen-Choreografien als Avantgarde betrachtet. Also beinahe jeder benutzt diesen Begriff, unabhängig davon, ob es dafür einen Grund gibt oder nicht.

Nähert man sich der Frage strukturell, nicht ästhetisch, werden zum zeitgenössischen Tanz diejenigen Tänzer, Choreografen, Gruppen und Ensembles gezählt, die salopp als „Freie“ bezeichnet werden, die Jahr für Jahr ihre Arbeit abliefern und Förderungen beantragen. Im Vergleich zum übrigen Tanzbereich sind deren Mittel nur die Krümel der großen Budgettorte. In den Kuratorien, die über die Förderungen der Freien entscheiden, sitzen vorwiegend Leiter der traditionsreichen, vom Staat oder von der Stadtverwaltung direkt geförderten Ensembles, die oft gar keine Ahnung haben von der freien Szene, deren Akteuren, Arbeitsweisen und Problemen.

Die Großen entscheiden über die Kleinen – und zwar aufgrund von Kontakten oder auf gut Glück, nicht aufgrund fundierter Expertise. Die Verlierer dieses Verfahrens sind in erster Linie diejenigen, die experimentierfreudig oder neu in diesem System sind. Immerhin gibt es in dieser Situation seit 2017 einen kleinen Hoffnungsschimmer: das Zoltán Imre Program, ein für drei Jahre eingerichteter Fonds, aus dessen Mitteln Berufsanfänger gefördert werden. Es ist aber weiterhin fraglich, ob diese Förderungsstruktur eine langfristige Lösung für systembedingte Probleme sein kann und ob sie den Gesinnungs- und Strukturwandel der Tanzszene ausreichend berücksichtigt.

Dass man trotz der zahlreichen negativen Vorzeichen über eine neue Choreografengeneration sprechen kann, ist in erster Linie der Sturheit und dem Durchhaltevermögen der Akteure zu verdanken. Sie produzieren oft unter No- und Low-Budget-Bedingungen, weil sie unbedingt arbeiten wollen. In den letzten Jahrzehnten ist – zwar nur rudimentär, aber immerhin – eine institutionelle Struktur entstanden. Dank solcher Einrichtungen, wie Trafó, MU Színház (MU-Theater), Műhely Alapítvány (Werkstatt-Stiftung) und SÍN Kulturális Központ (SÍN-Kulturzentrum), die die zeitgenössische Tanzkunst als Gastspiel- oder Produktionsstätte unterstützen, können sie ihre Vorhaben umsetzen. Neben diesen Häusern bieten einige Organisationen und Ensembles (Artus, Közép-Európa Táncszínház, L1 Egyesület) mit eigenen Mitteln den jungen Tanzschaffenden gelegentlich ein Schutznetz.

Wie alles begann

Um die Anfänge des neuen Tanzes in Ungarn zu rekonstruieren, muss man an den Anfang der achtziger Jahre zurückgehen. Damals trat eine neue Choreografengeneration auf, die über Tanz und Bewegung grundsätzlich anders dachte und später die moderne, avantgardistische Richtung der ungarischen Tanzkunst nachhaltig prägte. Während diese Pioniere aus der Blütezeit der Pantomimenszene kamen, hatte die darauffolgende Generation einen anderen Hintergrund. Ihre Akteure begannen ihr künstlerisches Schaffen um die Jahrtausendwende, meist als eine Entdeckung des über 15 Jahre lang wiederkehrend veranstalteten Talentwettbewerbs Inspiration. Sie kamen vorwiegend aus der geschlossenen Welt des Volkstanzes. Die neueste Generation, um die es hier vor allem geht, startete Anfang der 2010er Jahre. Sie verbindet weder ein Genre noch die gelernte Tanzform, sondern eine Bildungseinrichtung. Mit wenigen Ausnahmen sind es Absolventen der 2004 von Iván Angelus gegründeten Budapester Hochschule für Zeitgenössischen Tanz (BKTF). Diese Institution ist im besten Sinne des Wortes eine freigeistige Werkstatt und bietet als solche ihren Schülern einen inspirierenden künstlerischen Kontext.

Man kann an einer Hand abzählen, wer in dem letzten Jahrzehnt nicht aus dem Nest der BKTF ausgeflogen ist. Die wenigen wichtigen Akteure, die an anderen Orten ausgebildet wurden, seien hier kurz vorgestellt: Anna Réti machte nach ihrem Studium an der Tanzfachschule in Pécs ihren Abschluss an der Rotterdamer Tanzakademie. Ferenc Fehér, der Kaspar Hauser der ungarischen Tanzszene, ist ein Autodidakt. Máté Mészáros kam aus der Volkstanzszene und ist nach einigen Jahren bei der Ultima Vez Company auf der Suche nach seinem eigenen Profil. Rita Góbi machte ihren Abschluss an der Hochschule für ungarische Tanzkunst. In den letzten Jahren tauchte sie zum dritten Mal hintereinander spektakulär in die magische Welt des Minimalismus und der Repetition (wie in den Produktionen „Kontrapunkte“, „Volitant“, „Vibration“).

Diese heutige Generation ist auch dadurch verbunden, dass sie nicht lokal, sondern im Weltdorf sozialisiert wurde. Sie haben nicht nur in Ungarn studiert, sondern auch an den besten europäischen Schulen für zeitgenössischen Tanz, an der Salzburger SEAD, in den Brüsseler P.A.R.T.S. und an der bereits erwähnten Rotterdamer Tanzakademie. Bereits während ihrer Ausbildung haben sie mit ungarischen Choreografen und namhaften ausländischen Kollegen gearbeitet. Sie konnten sich nicht nur in heimischen, sondern auch in europäischen Gruppen ausprobieren, bei bekannten Ensembles, wie bei Rosas aus Belgien, dem ebenfalls belgischen Ultima Vez und dem Slowenen En-Knap. Diese Generation fühlt sich irgendwo auf der Welt genauso zu Hause wie in Budapest, das Leben in zwei oder mehreren Ländern ist für sie kein Problem, sondern eher ein Vorteil. Wenn sie von ihrem Beruf in der Heimat nicht leben können (es ist keineswegs einfach), arbeiten sie im Ausland an ihrer Karriere.

Meilensteine der Entwicklung

Wenn ich die Auftritte der Szene der jungen Tanzschaffenden in der jüngeren Vergangenheit beurteilen sollte, würde ich drei gleichwertige Ereignisse hervorheben, die gewissermaßen auch einen Paradigmenwechsel bedeuteten.

Die erste Inszenierung, die ich hervorheben möchte, trägt den Titel „City“ und stammt aus dem Jahre 2010 von der Formation Bloom! (die inzwischen nicht mehr existiert). Sie ist wichtig, weil sie die erste in einer langen Reihe internationaler Koproduktionen war. Die Gruppe, bestehend aus den beiden Lieblingen der britischen Tanzszene, Moreno Solinas und Igor Urzelai, sowie Csaba Molnár und Viktória Dányi, hat in „City“ einen jugendlichen, frischen Ton getroffen, der damals nicht einmal für das Spitzenfeld des ungarischen zeitgenössischen Tanzes typisch war. Dieser neue Ton bestand aus mehreren Komponenten: einerseits aus der außergewöhnlichen Annäherung an Musik, an Bewegung und an Text, andererseits aus der mosaikartigen Struktur, dem Denken in eigenständigen Bildeinheiten und der neuartigen Bearbeitung der Beziehung zwischen Gemeinschaft und Individuum.

Die zweite bedeutende Station kann man an der Tätigkeit eines Ensembles festmachen, das fast als einziges in der Szene nicht als temporäre Gruppe existiert. Die von Adrienn Hód 2007 gegründete Gruppe Hodworks ist 2011 nach fünf arbeitsreichen Jahren, die sie bewusst für Recherche und Experimentieren und nicht für die Erstellung von neuen Produktionen genutzt hat, mit der Produktion „Basse danse“ in Erscheinung getreten und erlangte damit internationale Aufmerksamkeit. Danach fingen sie an, in einem anderen Rhythmus, für andere Ziele, mit anderen Methoden zu arbeiten, und bauten ihren Stil und ihre Marke systematisch aus. Die Stücke „Morgendämmerung“ (2013), „Die Voraussetzungen der Sterblichkeit“ (2014), „Grace“ (2016) und „Solos“ (2017) sind alle authentische Stücke, wobei es ihnen gelingt, mit jeder Arbeit ein anderes Level zu erreichen. Hód ist eine unruhige Tanzschaffende, es würde sie krank machen, wenn sie immer das Gleiche tun müsste. Deswegen ist sie ständig auf der Suche, sie gerät immer wieder auf neues, noch unentdecktes Terrain, zerstört und baut, dekonstruiert und schafft neue Strukturen. Sie rüttelt an den Grenzen des Körpers, der Bewegung und des Daseins, hinterfragt dabei jeden begrifflichen Rahmen und alle persönlichen Erfahrungen, reißt alles ein, was man über Theater und Tanz weiß oder zu wissen meint.

Die in Bezug auf „City“ bereits erwähnte Viktória Dányi ist eine Einzelerscheinung. Sie hat noch nie allein eine Inszenierung gemacht, doch für eine Zusammenarbeit ist sie immer zu haben. Damit sind wir auch an dem dritten Meilenstein angelangt, der Produktion „Skin Me!“, die im April 2013 Premiere hatte. Das von Dányi initiierte Projekt entstand mit den Tänzern Csaba Molnár, Zsófia Tamara Vadas und mit zwei Musikern, um das Publikum in einer beschämend spielerischen, frechen und witzigen Vorstellung mit einer Reihe von ernsthaften, gleichwohl aber auch komischen zwischenmenschlichen Rivalitäten zu konfrontieren. In diesem Stück schlägt sich das Lebensgefühl einer ganzen Generation nieder, mit all ihrer Lässigkeit, ihrem Freiheitsdrang, ihrer Zügellosigkeit und auch ihren Ängsten. Die Produktion ist auch deshalb ein Meilenstein, weil sie die gewöhnliche Arbeitsteilung zwischen den Darstellern auflöst, der Musiker performt, der Tänzer „musiziert zerstörerisch“, jeder mischt sich in die Arbeit der anderen ein. Seitdem ist es angesagt, dass Musiker, bildende und intermediale Künstler an Tanzproduktionen mitwirken. Die Bühne gehört gleichzeitig allen.

Die Form wird zum Thema

Unter den bisher erwähnten Künstlern verfügt wahrscheinlich Csaba Molnár über das komplexeste Netzwerk: Er macht eigene Inszenierungen, arbeitet mit Márcio Canabarro (ebenfalls Mitglied von Hodworks) zusammen und ist an vielen Kooperationen beteiligt. Von seinen eigenen Inszenierungen ist die mit vielen Darstellern gestaltete „Eclipse“ (2015) zu nennen. Aus einer geskripteten Partysituation, die mit einer gewollt kitschigen Revueparodie noch getoppt wird, entwickelt sich ein spektakulärer Trip. In diesem Stück sowie auch in „Dekameron“ (2014) kann man bereits die für seine Arbeiten typischen camp- und queer-Merkmale erkennen, die dann später in der mit Canabarro zusammen entwickelten schmutzigen Fantasiewelt von „Tropical Escape“ (2016) auf die Spitze getrieben werden.

In welche künstlerischen Kategorien die einzelnen Inszenierungen gehören, ist schwer zu sagen. Fertiges Bühnenstück oder Performance? Die Einordnung ist deshalb so schwierig, weil diese Produktionen oft von einem Mangel an Tanz gekennzeichnet sind, gleichzeitig gibt es mal dezentere, mal direktere Interaktionen mit dem Publikum oder Spiele mit der Rolle des Zuschauers. Ironie und Selbstreflexion können unsere Beziehung zu dem Gesehenen auch umwerten. Noch entscheidender ist es aber, dass diese Produktionen oft gewollt spröde sind, wie works in progress wirken, zwischen privaten und inszenierten Situationen und Rollenkontexten changieren. Sie befinden sich an der magischen Grenze von Gemachtem und Zufälligem und entziehen sich dadurch einer eindeutigen Genrezuordnung.

Für die gemeinsamen sowie für die Soloarbeiten von Zsófia Tamara Vadas und Imre Vass ist diese performanceartige Wirkung ebenfalls typisch. Das „Sleeping Beauty Project“ (2017) von Vadas ist ein einziger Bluff – dünnes Eis zwischen Witz und Ernst. Die Herausforderung dabei ist, wie der Zuschauer auf die unterschiedlichen darstellerischen, musikalischen, visuellen Reize reagiert und die aufgeworfenen Fragen für sich beantwortet. Ihre mit dem Medienkünstler Ábris Gryllus gemeinsam entwickelte Produktion „Krund Ni Ovel“ (2017) dekonstruiert, anhand des Songs „Drunk in Love“ von Beyoncé, die imaginären Zeichen der Popkultur in einer sterilen, laborartigen Umgebung. Auch der für geistige und spirituelle Einflüsse sensible Vass ist ein freier Grenzgänger zwischen den darstellenden Künsten und Genres. Sein Stück „It Comes It Goes“ (2013), das sich vor allem durch Hüpfen auszeichnet, testet die in der Monotonie steckende Kraft und die Sensibilität der Aufmerksamkeitsveränderung der Zuschauer. „Taking Place“ (2016) ist eine Kampfansage an die Erwartungshaltung der Zuschauer, denn man hört lange einem Monolog zu und starrt dabei auf die leere Bühne.

Virág Arany und Júlia Hadi (bodylotion co-dance) arbeiten immer zusammen. Wie bei vielen anderen jungen Tanzschaffenden bedingt auch bei ihnen das Thema die Form und nicht umgekehrt, daher sind ihre Stücke sehr vielfältig. „Step In Time“ (2014) ist eine großartige minimalistische repetitive Bewegungskomposition, in der die zwei Tänzerinnen, während des ganzes Stückes Hand in Hand im Raum riesige Achten schreibend, Stimmungen und Empfindungen entstehen lassen. „Das Duell / Párbaj“ (2016) hingegen ist ein Konzeptstück, es zeigt die Kehrseite einer langjährigen Zusammenarbeit, indem es die Unterschiede zwischen den beiden Tänzerinnen thematisiert und den Begriff des Duells auszudehnen versucht. Die auch viel im Ausland arbeitende und lehrende Zsuzsa Rózsavölgyi, die 2016 die Choreografieassistentin von Thierry De Mey in dem Stück „Love Sonnets“ war, beschäftigt sich mit vielen unterschiedlichen Themen. 2014 in „Alter See“ und 2016 in „Meduse“ (Letzteres aufwendiger und mit insgesamt 21 Tänzern) abstrahierte sie die nur mit Lupe wahrnehmbaren organischen Bewegungen von Mikroorganismen und Lebewesen aus Unterwasserwelten zu einer organischen Struktur, einer fabelhaften Augenweide. In „1,7“ (2016) erlebte man eine selbstbewusste Rózsavölgyi, die mit dem Mittel der Selbstrepräsentation ihre Ansichten über Weiblichkeit, Frauenrollen, Abtreibung und Opferbeschuldigung formulierte.

Last, but not least erwähne ich László Fülöp und sein virtuelles Ensemble Timothy and the Things, das ohne seine Hauptdarstellerin Emese Cuhorka nicht vorstellbar wäre. Seine Stücke – „There’s an Elephant in Every Room“ (2014), „Your Mother at My Door“ (2015), „Waiting for Schrödinger“ (2016) – haben viele Gemeinsamkeiten: das Fragmentarische, der delikate Humor, die Trash-Einflüsse. Eine reiche Palette an Stilen und Bewegungen, freier Umgang mit kulturellen Zeichen und Anspielungen, die unterschiedlichen, zum Teil irreführenden Ebenen des darstellerischen Daseins. Doch seine Choreografien verdichten sich zu unterschiedlichen Aussagen, Stimmungen oder Stilmerkmalen, sie verdrehen die Realität, gleichzeitig weisen sie in eine nie da gewesene Fantasiewelt, in der alles passieren kann – oder auch nicht.

Schöne neue Welt? Von wegen … Nur Fluchtwege.

Übersetzung aus dem Ungarischen von Réka Gulyás.

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