Auftritt
Thalia Theater Hamburg: Im Blutmeer der Zukunft
„Hope“ mit Texten von Maria Milisavljević (UA) – Regie Guy Weizman, Choreografie Roni Haver, Bühne Ascon de Nijs, Kostüme Simon Carle & MAISON the FAUX, Komposition Camill Jammal
von Jens Fischer
Assoziationen: Theaterkritiken Hamburg Dossier: Uraufführungen Guy Weizman Maria Milisavljević Thalia Theater

Im romantischen Zauber von Harmonie und Schönheit des Balletts geht es bei höchsten technischen Ansprüchen nicht um das Individuum, sondern um das Loslassen des eigenen Ichs, das Aufgehen im Kollektiv. Für die ästhetische Ordnung und dramatische Struktur tritt meist eine Zuchtmeister:in an. Diese befremdliche Gestrigkeit ironisiert die wie immer erfreulich diverse und multilinguale Compagnie von Guy Weizman – mit sechs Tänzer:innen seines Groninger NITE- und vier Schauspieler:innen des Thalia-Ensembles – für die Uraufführung von „Hope“ in abgerissen-rosa Tutu-Outfits mit Zitaten formalisierter Bewegungen und ornamentaler Posen, trippeliger Schrittkombinationen sowie akkurat putziger Arrangements. Dagegen deuten die Ballerina-Darsteller:innen ihren Charakter mit einem jeweils eigenen Bewegungskanon an, outen sich so als Akteur:innen des zeitgenössischen Tanztheaters, das nicht von alleinbestimmenden Choreograf:innen, sondern meist mit dem Ensemble entwickelt wird. Wenn in solchen Kontexten nun doch mal die Hauptverantwortliche ihre Deutungshoheit herauskehrt und Szenen eigenmächtig ändert sowie einzelnen Tänzer:innen mit Soli mehr Aufmerksamkeit verspricht, grummelt Unmut, wächst sich zu Widerstand aus und wird zu einer zumindest schüchtern dahingestotterten „Meuterei“. Das zeigt „Hope“. Und ist damit mitten in aktuellen Debatten um Machtmissbrauch: Wann kippt Autorität ins Autoritäre? Zusätzlich flammt der Diskurs um den Inhalt der Choreografie auf. Bisher vermittelte sie wohl ein liebliches Hoffnungsleuchten, „shiny, positive bullshit”, wie ein Tänzer sagt. Jetzt soll eher Hoffnungslosigkeit in Bewegung gesetzt werden.
Zu sehen ist ein wilder Tanztaumel sich halten und umarmen wollender Figuren in einem zerstörerischen Sturm – wohl unsere polarisierende Multikrisen-Realität. Von draußen tropft auch bereits Wasser in den Probenraum. Auf einer plötzlich rot glühenden Bühne kündigt sich bald ein Blutmeer als fusionierte Klimakatastrophen- und Kriegsflut an, die Apokalypse der Zivilisation. Wie jetzt und hier noch Hoffnung wachhalten? Wohin mit den kleinen Egoprobleme angesichts der globalen Katastrophen? Aus diesen Fragen entwickelt Weizman eine interdisziplinäre Performance, die Gedankenfäden auslegt, auf die Vielfalt der Perspektiven achtet und einfache Antworten vermeidet. Aus dem Argumente-Ping-Pong erheben sich ab und an poesiewillige Aufschwünge (Texte: Maria Milisavljević und Ensemble). Szenisch ist eine immer vorläufig wirkende Collage aus dem Schauspiel des Gruppendiskurses, den daneben, dazu, dagegen bewegten Körperbildern, darüber hinausführenden Tanzpassagen (Choreografie: Roni Haver) und kommentierenden Songs zu erleben.
Radikale Position definieren die Krise bei den Tanzproben. Die einen wollen nicht blinden Gehorsam praktizieren, andere loyal ihren Stückvertrag erfüllen. Lauthalse Kritiker:innen der Chefin – einer cholerisch-manipulativen Powerfrau – wechseln sofort die Seite, wenn diese ihnen einen kleinen Vorteilsbrocken hinschmeißt. Und klar, wer jetzt protestiert oder gar boykottiert, riskiert seinen Job, auf den draußen schon „30 junge Hüpfer“ warten, wie es heißt. Die auserkorene Solistin wird beschimpft, dass sie nicht mal „ein einfaches Plié halten“ könne und nur in den Vordergrund rücke, weil sie als PoC „perfekt für Förderanträge“ sei. Die empörte Entgegnung: „Ich hab’ mir jeden Schritt hart erarbeitet.“ Pro Konzeptänderung wird argumentiert, sie verhindere Stillstand, befördere das Neue. So geht es hin und her. Dazwischen funken Andeutungen von Affären, Beziehungen, Eitelkeiten und längst nicht vernarbten Verletzungen. Ergänzt um Monologe, die als persönliche Wahrnehmungen von Armut, Gewalt, Einsamkeit in unserer Gesellschaft dargeboten werden. Natürlich verweisen die Berichte von der Armut der Großmutter, Erinnerungen an Gewalt in der Familie usw. auf das soziale Elend als weitere Folge machtpolitischer Fehlentwicklungen – wie die abstrahiert oder symbolisiert angerissenen Klima- und Kriegskatastrophen –, also auf etwas Strukturelles, kommen im Gegensatz dazu aber als konkreter Ausdruck der Individualität der Tänzer:innen daher, die sich im Setting der dargestellten Stückentwicklung/Tanzprobe fragen, ob und wie dieses Private das Politische spiegeln kann.
Gleichzeitig mutiert die Choreografin immer mehr zum „Ich will“ brüllenden Rumpelstilzchen. Schließlich hebt eine spektakulöse Weltzerstörungschoreografie an, bei der die durch Spiegelflächen und Lichtbahnen gestaltete Bühne beeindruckend mitspielt. Die personifizierte Hoffnung stirbt, das Ensemble guckt so einsam wie traurig und überlegt, ob es wirklich Zerstörung, Krieg zur Läuterung braucht, „damit wir verstehen, was Fürsorge und Teilen, Zusammenhalten und Zusammenstehen“, was Verwurzeln im Miteinander bedeute.
Während zum Intendanzstart von Sonja Anders im großen Haus des Thalia Theaters bisher reichlich Mitklatsch-Behauptungen auf Zustimmungsnicken und Solidaritätsapplaus trafen, wird mit „Hope“ endlich mal philosophisch ins Offene losgedacht und szenisch drauflos fantasiert. Allerdings bricht jeder Ansatz auch schnell wieder ab, um Platz für den nächsten Einwurf zu schaffen. So entsteht die künstlerisch nicht ausgereifte, aber vielstimmige Collage pointierter Situationen einer Mikro- als Beispielgesellschaft, die das Leben, wie es im Stück heißt, als Fegefeuer erlebt, das sich wie „ewiges Heimweh“ anfühle. Also Hoffnungen erweckt, die nicht Vertröstung, Passivität, Wunschdenken bedeuten, sondern handlungsfähig machen. So deutet sich final Ernst Blochs „Prinzip Hoffnung“ an: Hoffnung als Tätigkeit, als Utopie vom hart zu erarbeitenden Nachhausekommen in der Zukunft. Dafür tanzen und spielen und singen die Künstler:innen – suchen und finden auch an diesem Abend einige Momente, in denen etwas aufblitzt, was sein könnte, sollte, müsste …
Erschienen am 10.12.2025


















