Theater der Zeit

Nachruf

Unbedingtes Wissenwollen

Rede zur Trauerfeier für Hans Neuenfels

von Klaus Zehelein

Erschienen in: Theater der Zeit: Was soll das Theater jetzt tun? – Eine Umfrage (05/2022)

Assoziationen: Akteure Musiktheater Hans Neuenfels

Für die „Aida“-Inszenierung von Hans Neuenfels an der Frankfurter Oper 1981 hat der Bühnenbildner Erich Wonder spiegelbildliche Opernränge auf die Bühne bauen lassen. Foto Mara Eggert/Theatermuseum München
Für die „Aida“-Inszenierung von Hans Neuenfels an der Frankfurter Oper 1981 hat der Bühnenbildner Erich Wonder spiegelbildliche Opernränge auf die Bühne bauen lassen.Foto: Mara Eggert/Theatermuseum München

Anzeige

Anzeige

Ich wollte nie die klassischen Texte oder Kompositionen zerstören. Ich wollte sie aushorchen, ausspionieren, dahinter kommen im wahrsten Sinne des Wortes, Recherche treiben, Detektivarbeit, mich mit ihnen anfüllen, mich durch sie vergrößern, verbreitern, mich verfestigen, mich aufweichen, alles je nacheinander oder zugleich. Schon als Schüler stellte ich mir vor, was der letzte Satz des Grafen Kent in Friedrich Schillers ‚Maria Stuart‘ für Königin Elisabeth bedeutet, der auf ihren Befehl ‚Graf Leicester, komme her!‘ antwortete: ‚Der Lord läßt sich entschuldigen, er ist zu Schiff nach Frankreich.‘ Zwar schreibt Schiller als Regiebemerkung: ‚Sie bezwingt sich und steht mit ruhiger Fassung da‘. Der Vorhang fällt, doch ich konnte es nicht glauben. Eine Königin, schon älter, gezwungen, ­allen gegenüber misstrauisch zu sein, verliert ihren engsten Vertrauten und Liebhaber. Plötzlich, ohne ein Wort des Abschieds, verschwindet die einzige Lichtgestalt ihres Lebens. Sie ist für immer allein. Beim Gespräch, bei Tisch, im Bett, beim Spaziergang. Zugegeben, auch ich war im gewissen Sinne allein, ohne Freundin, denn die Mädchen konntest du damals höchstens im Freibad wie zufällig anfassen, aber ich war erst fünfzehn, hatte Eltern und ein paar Freunde. In meiner Fantasie ließ Königin Elisabeth den Grafen gerade noch abgehen, ehe sie vom Schwindel ergriffen in einen Stuhl fiel und unbewegten Gesichts zu weinen begann, dann aber aufsprang und unartikulierte Schreie ausstieß, die durch die Halle echoten und die Wächter vor den Türen erschauern machten.“

Soweit seine Erinnerung an den fünfzehnjährigen Hans Neuenfels, die hier nicht wiedergegeben wurde, um von hier aus den künstlerischen Lebensweg von Hans Neuenfels dezidiert zu verfolgen – vom Assistenten des Max Ernst in Paris, von seinem Studium am Max-Reinhardt-Seminar zusammen mit Wildgruber, Sperr, Kroetz und Elisabeth Trissenaar, seiner späteren Frau und künstlerische Lebensgefährtin; beider erste Engagements in Bern, Trier, Heidelberg, seine weiteren Arbeitsorte Bremen, Hamburg, beider langjähriges Engagement (zusammen mit Peter Palitzsch) in Frankfurt; und Wien, Zürich, Salzburg, Berlin, München, Paris, Bayreuth. All das kann man anderen Ortes nachlesen und dazu verstörend Erhellenderes in der Neuenfels-Autobiografie „Das Bastardbuch“ finden. Über die literarischen und filmischen Arbeiten von Hans Neuenfels mögen Berufenere reden. Doch weiß ich, dass gerade das Schreiben für ihn eine überaus große Bedeutung hatte – als notwendigen Rückzug aus allzu lauten Diskursen, eine Entscheidung des Für-sich-Seins und vielleicht, wie Hegel schrieb: „Sehnsucht nach der Nacht und der Einsamkeit des Selbstbewußtseins“. Die Frankfurter Inszenierung der Euripideischen „Medea“, zusammen mit der grandiosen Trissenaar – zwei Jahre vor dem Beginn meiner Arbeit an der Oper Frankfurt – war ein Ereignis, getragen von dem Pathos des Ungeheuerlichen, welches das Unsagbare ohne strategische Abrichtung in die Welt entlässt. Für mich ein schockierendes Kennenlernen. Für einen Frankfurter Großkritiker war diese „Medea“ von 1975 ein Zehnzeilen-Verriss wert – der wirkliche Skandal! Die Arbeit mit Neuenfels war – wie er es selbst eingangs beschrieben hat – geprägt durch ein insistentes Suchen, aufgreifend und verwerfend. Die Annäherung an Schrekers „Die Gezeichneten“, Busonis „Doktor Faustus“, Verdis „Aida“ oder Wagners „Meistersinger“, Mozarts „Don Giovanni“, „Die Entführung aus dem Serail“ wurde bestimmt von einer leidenschaftlichen Unbedingtheit des Wissenwollens. Sie gestaltete sich in einer ausladenden Bewegung von größter Nähe zum Text, zur Partitur, um dann in assoziative Abschweifungen zu münden, auf der Suche nach neuen Materialien und Perspektiven, nach Verschärfung und Erweiterung des künstlerischen und gesellschaftlichen Raums. In manchen Momenten reizten diese den Dramaturgen zum Widerspruch, der, genervt, in dem Neuen­fels’schen Eigensinn ein egobezogenes, privatmythologisches Muster zu erkennen glaubte, das er schwerlich nachvollziehen konnte. Ja, dann kam es zum beiderseitigen Schweigen, Stille. Doch in diesen Momenten der Sprachlosigkeit lag auch Gewinn, indem manche befremdliche Abschweifung sich als Schlüssel zu einer Welt erwies, die ich – parallel zur dramatischen – als die ­lyrisch-surreale der Neuenfels’schen Arbeit benennen möchte. Seine oft sehr subjektive Sicht auf Texte und Partituren und die dann daraus erwachsenen starken Behauptungen, verdanken sich ­einem Denken, das sich Sprünge, Brüche und damit Aussparungen erlaubt, die Platz machen für überraschendes Erkennen und Sehen – ein Aufbrechen vermeintlich geschlossener Strukturen, Diskontinuiät zulassend, ja suchend. Man denke an den Rattenchor der Neuenfels’schen viel gepriesenen Bayreuther „Lohen-grin“-Inszenierung: Entgegen dem Allegorie-Gedanken klassischer Tierfabeln stehen diese Ratten-Menschen erst einmal für nichts, sie sind! All das, was diesen Nagern zugeschrieben werden kann – im Untergrund lebende aggressiv-eklige, Krankheiten übertragende Monster –, findet keine Entsprechung. Erst am Ende, wenn sie sich im letzten Akt in schwarz-uniformierte ­Menschen verwandeln – die Erinnerung an den Faschismus provozierend –, fokussieren sich die versprengten Assoziationen. Die Arbeit der Bewegung zwischen extremen Positionen führt die ­Figuren der Neuenfels-Bühne, eine Bühne, die Normalität zu ­suspendieren sucht. Normalität war für Neuenfels, dem alles ­Gesellschaftliche, Repräsentative und Strategische obskur war, gleichsam der Wandschirm, hinter dem sich die persönlichen, ­gesellschaftlichen und politischen Katastrophen, die unbewältigten Wirklichkeiten verbergen. Die Krassheit, das Anstößige in manchen Neuenfels-Arbeiten ist Resultat eines rabiat vorgetragenen Widerspruchs gegen einen Lebenszusammenhang, der – um es mit Neuenfels’ Worten zu sagen – „jedes Gespenst, jeden ­Abgrund, alles Triebhafte als beherrschbar vorgibt“. Diese ästhe­tischen Provokationen gegen die Macht einer Rationalität des Kalküls korrespondiert mit dem notwendig Skandalösen, wie es Pier Paolo Pasolini eignet, der in einem Gespräch über seinen Film „Salò oder die 120 Tage von Sodom“ die andere Seite der Medaille benennt: „Der Konsumismus ist das einzige System, das alles durchdrungen hat und das eine Aggressivität mit sich bringt, die für den Konsum nötig ist ... Ich beuge meinen Kopf im Namen Gottes, das ist ein großer Satz. Heute dagegen hat der Konsument wahrhaftig keine Ahnung davon, dass er den Kopf beugt, im ­Gegenteil, er glaubt, er habe es nicht getan, er hätte seine Rechte behauptet. Er fordert die ganze Zeit seine Rechte ein und glaubt, man würde ihm sagen, er hätte alles richtig gemacht, dabei ist er nur ein armer Idiot.“ Für beide Künstler ist „Normalität“, die anerkannte, gesellschaftlich verbürgte Vernunft, gleichbedeutend mit der Suspendierung jeglicher Kritik. Die Doppelung der Sänger durch Schauspieler in der „Entführung aus dem Serail“ lässt ­einen Abgrund ahnen, und immer wieder gibt das Singspiel die Tragödie schmerzlich frei. Das Komische und das Tragische sind hier eben keine zwei Seiten einer Münze, sondern, wechselnd zwischen Schauspieler und Sänger, weit auseinander liegende Seins-Weisen. In seiner Berliner Inszenierung der „Ariadne auf Naxos“ von Hofmannsthal/Strauss, geht Neuenfels den Autoren nicht auf den Leim, welche die opera seria mit der opera buffa zu einem barock-kostümierten, parfümierten Zwitterwesen ver­backen. Neuenfels widerspricht von Anfang an den Autoren und ihrer unseligen Konstruktion der Wahrheit einer Liebe, wie sie sich am Ende pathetisch selbst feiert – versehen mit allen kompositorischen Mitteln, die Strauss zu Verfügung stehen. Neuenfels legt das Desolate, die Dekadenz frei, mit der das Werk spielerisch, leichtfüßig umzugehen vorgibt, er schiebt das Possier­liche und den Pomp beiseite, indem die Dimension des Depres­siven Platz greift. Man hört die Musik neu! Neuenfels’ Musikalität erwächst eher aus einem abwartenden Hineinhören als aus einer voraus­setzungslosen Empathie. In der Arbeit an Schrekers „Die Gezeichneten“ glaubte er zu Beginn des dritten Aktes etwas anderes zu hören, als die szenische Vorgabe des Komponisten, der das hergestellte, künstliche Paradies der Insel vor Genua mit Nymphen- und Satyr-Spielern bevölkerte. Ich wurde später darauf aufmerksam gemacht, dass Teile dieser Komposition aus einem aufgelassenen Werk Schrekers in die „Gezeichneten“ übernommen wurde: Da hatte bereits Neuenfels die Genueser Bürger mit ­Picknick-Körbchen und Klappstühlen auf die Insel geschickt, ursprünglich eine Szene, in der Arbeiter in den Feierabend entlassen werden. „... ich sah die siegreichen Pharaonen mit ihren Kriegern ... ich sah Priester und Volk in langen Reihen durch die Säulenhallen zu den Göttern wallen, sah den Todeszug in Pracht und Herrlichkeit zu den Königsgräbern einherziehen – da hörte ich – ,Bakschisch, Bakschisch‘ mir von allen Seiten entgegen schreien, und ich wurde so plötzlich recht prosaisch an die ekle Wirklichkeit erinnert“. Die Flucht vor der „eklen Wirklichkeit“ in eine fantastische und monumentale Vergangenheit des deutschen Archäologen Heinrich K. Brugsch, 1854 angesichts der ägyptischen Ausgrabungen Auguste Mariettes notiert – des Mannes, der 15 Jahre später den Tagtraum „Aida“ für Verdi aufschreiben wird, diese Flucht hat sich oft genug eingeschrieben in die Rezeptionsgeschichte eines der meistgespielten Werke des Opern-Repertoires. Ein Teil des Frankfurter Publikums schien sich während der Premiere im Januar 1981 darin einig, seine Erwartungshaltung im Protest gegen die Wirklichkeit des Werks durch lautstarke ­Pöbeleien, unflätige Zwischenrufe, Trillerpfeifen, höhnisches Klatschen zu äußern, um den Abbruch der Aufführung zu erzwingen. Es gelang ihnen nicht! Es war eine furchteinflößende, schreckliche, entsetzliche Erfahrung. Jemand hatte Hans und mir zur Premiere sechs Flaschen achtzehn Jahre alten Scotch in mein Büro gestellt. Direkt nach der Premiere zerschlugen wir sie: Mein Büro roch noch ein halbes Jahr nach diesem Ausnahmezustand. Die folgenden Aufführungen fanden ein würdigeres Publikum. Vor über vierzig Jahren inszenierte Hans Neuenfels diese „Aida“, die heute Legende ist.

Berlin, 3. April 2022

teilen:

Assoziationen

Neuerscheinungen im Verlag

Charly Hübner Buch backstage
Cover XYZ Jahrbuch 2023
Recherchen 162 "WAR SCHÖN. KANN WEG …"
"Scène 23"
"Zwischen Zwingli und Zukunft"
Recherchen 165 "#CoronaTheater"
"Die Passion hinter dem Spiel"
Arbeitsbuch 31 "Circus in flux"
"Passion Play Oberammergau 2022"
Recherchen 163 "Der Faden der Ariadne und das Netz von Mahagonny  im Spiegel von Mythos und Religion"
Passionsspiele Oberammergau 2022
"Theater der Vereinnahmung"
Recherchen 156 "Ästhetiken der Intervention"
"Theater unser"
"Pledge and Play"