Magazin
Zwischen Theatern und Museen
Zu den Arbeiten von Walid Raad und einer Ausstellung in Mainz
von Renate Klett
Erschienen in: Theater der Zeit: Was soll das Theater jetzt tun? – Eine Umfrage (05/2022)
Assoziationen: Akteure Rheinland-Pfalz Performance

Walid Raad ist ein vielseitiger Künstler, Performer, Filmemacher, Videogestalter, Zeichner, Fotograf, Moderator, Welterklärer. 1967 im Libanon geboren, lebt er heute in New York, wo er an der renommierten Cooper Union lehrt. Seine Arbeiten wurden zur documenta11 und dOCUMENTA (13) eingeladen. Er hatte zahlreiche Einzelausstellungen in aller Welt, die jüngste, „We Lived So Well Together“ in der Kunsthalle Mainz (noch bis 15. Mai).
Was seine Arbeiten so besonders macht, und ihn zum Magier, ist die Vermischung von Realität und Fiktion, das Insistieren auf einer Doppelbödigkeit in allen Dingen, Menschen und Materien. Kunst ist für ihn nicht statisch, sondern sie wächst oder zerfällt nach Belieben. „Je länger man etwas ansieht, desto fremder schaut es zurück“ – der berühmte Satz könnte von ihm sein, lässt er doch das Sichtbare im Abgrund verschwinden und den Abgrund im Rausch des Erzählens.
1989 gründet Raad The Atlas Group, mit der er den libanesischen Bürgerkrieg mit allen Folgen und Verstrickungen dokumentiert. Hunderte, wenn nicht Tausende von Dokumenten, Briefen, Aussagen und Forschungen bilden einen Ring des Grauens und gleichzeitig der Durchhaltekraft. Und einige der Geschichten sind so absurd, dass man sie schier nicht glauben mag (nicht glauben soll?). Aber dann wird einem klar, dass es vielleicht gerade die Absurdität ist, die sie wahr macht.
Die Green Line, die Beirut zerteilte, wurde weltberühmt, und Anfang der 80er Jahre gab sich ein heruntergekommener, aber sehr angesagter Club auf der New Yorker Bowery den Namen „Downtown Beirut“. Das könnte glatt ein Gag von Walid Raad sein, der nicht müde wird, die schnittigen Sportwagen aufzuzählen, die Tag für Tag zerbombt wurden, und über die Motoren zu sprechen, die durch die Explosion hinausgeschleudert werden und draußen liegenbleiben, bis sie jemand zwecks Weiterverwertung aufräumt. Seine Kriegsberichte sind nicht zynisch, sondern wissend, und er ist ein begnadeter Erzähler.
Die Atlas Group zielt darauf, die offizielle Berichterstattung zum Bürgerkrieg mit oral history zu unterwandern. „Ich komme von der Fotografie her, nicht vom Theater“, betont Raad. „Meine Projekte beginnen immer mit Bildern, nicht mit Geschichten. Die Bilder habe ich selbst fotografiert, aber ich behandle sie so, als ob ich sie irgendwo gefunden hätte. Und dann frage ich mich, woher sie kommen, was sie aussagen. Also beginne ich, ihre mögliche Geschichte zu erfinden. Und mitten in der Performance sage ich plötzlich einen Satz, der es genau trifft, und dann weiß ich: Das ist die Geschichte! Das ist der Satz, der mir gefehlt hat.“
Sein Gemisch aus Realität und Fiktion, Albträumen und Halbwahrheiten erinnert an die smarten Kunstaktionen von Hans-Peter Litscher, bei denen man auch nie weiß, was echt und was erfunden ist. Nur sind diese „Litscheriaden“ kleiner und feiner gestrickt. Walid Raad hingegen mag es gern groß, vermischt Politik, Ästhetik, Literatur und Verdrossenheit zu einem Riesenpuzzle aus Vermutung und Behauptung.
Vieles an seinen Arbeiten wirkt mysteriös, das soll es wohl auch. Das Gründungsjahr der Atlas Group wird mal mit 1989, mal mit 1999 angegeben. Wenn man ihn googelt, kriegt man häufig Rad-Touren angeboten – dabei bedeutet sein Name Raad soviel wie Donner. Er lässt sich nicht festlegen auf Stile und Methoden, spielt in Theatern wie in Museen und weiß die unterschiedlichen Konnotationen sehr wohl zu nutzen. Das langjährige Projekt „Les Louvres and/or Kicking the Dead“ entstand als Antwort auf den zweiten Louvre in Abu Dhabi 2008 und wurde in vielen Museen Europas gezeigt. „I Long To Meet The Masses Once Again“ kam 2020 in Köln heraus, und die jüngste Arbeit in Mainz lässt sich mit ihren Sorgen und Entdeckerfreuden als permanente Kunstreise verstehen. In drei geräumigen Sälen des Museums stehen Skulpturen und Fotografien von majestätischen Wasserfällen auffordernd und geheimnisvoll beisammen, bis Raad sie durch seine Interpretationen zum Leben erweckt. Seine „Walkthroughs“ mit dem Publikum sind genau berechnet und so märchenhaft, als hätte Sheherazade höchstselbst sie erfunden.
Wasserfälle fallen auf vier winzige Bundeskanzler, die Heuschrecken von der historischen Plage kleben auf den Rückseiten der Bilder, und die verschwundenen İznik-Dekorationen aus dem Osmanischen Reich erstehen durch die Führungen wieder auf. Die jeweiligen Geschichten sind amüsant und voller Widerhaken. Raad verwandelt diese „Walkthroughs“ in eine intelligent verschrobene Rätsel-Performance.
Das ist Theater und Vermächtnis zugleich – die Kunst kriegt Flügel, und wir hechten hinterher. Und es ist eine Wohltat, einen Künstler zu erleben, der nicht im gerade angesagten Mode-Sprech die Welt erklärt, sondern sie erschnüffelt wie ein Hund auf Spurensuche im Wald.
„Ich muss meine Auftritte an die jeweiligen Begebenheiten anpassen“, sagt er. Es muss Raum geben für das Politische, „das Formale, das Faktische, das Hysterische, das Intellektuelle, das Ästhetische, und ich glaube, dass ich sie allesamt bedienen kann. Es hängt immer von den Umständen ab. Wenn ich im Libanon auftrete, dann halte ich mich an das Ästhetische, denn die Fakten kennen sie ja selbst. Dabei fällt mir ein – wer war es – ich glaube, es war Godard, der gesagt hat: Die Palästinenser kriegen die Geschichten, die Israelis kriegen die Poesie …“ //