Theater der Zeit

I. Schauspielen

Zur Philosophie des Schauspielers

Quelle 3

von Georg Simmel

Erschienen in: Lektionen 3: Schauspielen Theorie (12/2010)

Assoziationen: Schauspiel Theatergeschichte

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Was allgemein als die künstlerische Beziehung von Stoff und Form gilt: die gegebene greifbare Wirklichkeit liefere den Stoff, den der Künstler in die artistische Form überführe, über alle Realität hinweg zum Kunstwerk bilde – diese Beziehung dreht der erste und populäre Eindruck der Schauspielkunst geradezu um. Während jede Kunst sonst die Lebensrealität in ein objektives lebensjenseitiges Gebilde überträgt, tut der Schauspieler das Umgekehrte. Denn den Stoff für die Leistung des Schauspielers bildet ja gerade schon ein Kunstwerk, und seine Leistung ist es nun, dies bloß Ideelle, bloß Geistige des Dramas zu verwirklichen, es wieder in einen Wirklichkeitsausdruck überzuführen. In der Tat: das Drama besteht als abgeschlossenes Kunstwerk. Hebt der Schauspieler dies nun in eine Kunst zweiter Potenz? Oder wenn dies sinnlos ist, führt er als leibhaftig lebende Erscheinung es in die überzeugende Wirklichkeit zurück? Warum aber, wenn dies der Fall ist, fordern wir von seiner Leistung den Eindruck von Kunst und nicht den von bloß realer Natur? Aus dieser Verknotung müssen die kunstphilosophischen Probleme über den Schauspieler vorsichtig herausgelöst werden.

Die Bühnenfigur, wie sie im Buche steht, ist sozusagen kein ganzer Mensch, sie ist nicht ein Mensch im sinnlichen Sinne – sondern der Komplex des literarisch Erfaßbaren an einem Menschen. Weder die Stimmen noch den Tonfall, weder das ritardando noch das accelerando des Sprechens, weder die Gesten noch die besondere Atmosphäre der lebenswarmen Gestalt kann der Dichter vorzeichnen oder auch nur wirklich eindeutige Prämissen dafür geben. Er hat vielmehr Schicksal, Erscheinung, Seele dieser Gestalt in den nur eindimensionalen Verlauf des bloß Geistigen verlegt. Als Dichtung angesehen ist das Drama ein selbstgenugsames Ganzes; hinsichtlich der Totalität des Geschehens bleibt es Symbol, aus dem diese sich nicht logisch entwickeln läßt. Jenen eindimensionalen Ablauf nun überträgt der Schauspieler gleichsam in die Dreidimensionalität der Vollsinnlichkeit. Und hier liegt das erste Motiv jener naturalistischen Verbannung der Schauspielkunst in die Wirklichkeit: es ist die Verwechslung |43|der Versinnlichung eines geistigen Gehalts mit seiner Verwirklichung. […]

Indem wir die ganze Irrigkeit der Idee einsehen, daß der Schauspieler die dichterische Schöpfung „verwirkliche“, da er doch dieser Schöpfung gegenüber eine besondere und einheitliche Kunst übt, die der Wirklichkeit genau so fernsteht wie das Dichtwerk selbst – begreifen wir sogleich, warum der gute Imitator noch kein guter Schauspieler ist, daß das Talent, Menschen nachzuahmen, nichts mit der künstlerisch-schöpferischen Begabung des Schauspielers zu tun hat. Denn der Gegenstand des Nachahmers ist die Wirklichkeit, sein Ziel ist, als Wirklichkeit genommen zu werden. Der künstlerische Schauspieler aber ist so wenig wie die Porträtmaler der Nachahmer der wirklichen Welt, sondern der Schöpfer einer neuen, die freilich dem Phänomen der Wirklichkeit verwandt ist, da beide aus dem Vorrat der (ideellen) Inhalte alles Seins überhaupt gespeist werden. Darum ist es ein ganz irriger Ausdruck, dem freilich als Ausdruck auch unsere Klassiker verfallen sind, daß die Kunst überhaupt, und insbesondere die Schauspielkunst, ihre Substanz im Schein habe. Denn aller Schein setzt eine Wirklichkeit voraus, entweder als seine tiefere Schicht, deren Oberfläche er ist, oder als sein Gegenteil, das er heuchlerisch vertreten will. Kunst aber steht jenseits dieses Gegensatzes, ein für sich bestehendes Reich, in dem man die Wirklichkeit nicht suchen und deshalb auch nicht den Schein finden kann.

Die künstlerische Selbständigkeit der Schauspielkunst stellt dem kunstphilosophischen Begreifen die schwerste Aufgabe. Denn nicht nur ist die Versklavung abzuweisen, in die der rohste Naturalismus sie bannen möchte: als sei es das Ideal des Schauspielers, sich als Hamlet so zu benehmen, wie sich ein realer Hamlet benommen hätte; sondern noch die viel verführerischere Vorstellung: als ob die ideale Art, eine Rolle zu spielen, mit dieser Rolle selbst eindeutig und notwendig gegeben wäre; als stiege für den, der nur hinlänglich scharf zu sehen und logisch zu folgern wüßte, aus den Buchseiten des Hamlet selbst eine ganz theatralische Versinnlichung heraus; so daß es, genau genommen, von jeder Rolle nur eine einzige „richtige“ schauspielerische Darstellung gibt, der sich der empirische Schauspieler mehr oder weniger nähert. Allein dies wird durch die Tatsache widerlegt, daß drei große Schauspieler die Rolle in drei völlig verschiedenen Auffassungen spielen werden, jede der anderen gleichwertig und keine „richtiger“ |44|als die andere; ja so wenig sind sie einerhöchsten, übersingulären Norm zugewandt, daß irgendein Passus, dem einen Schauspieler etwa besonders gelungen, dennoch nicht in die Auffassung des anderen eingefügt werden kann, ohne diese ganz widrig zu zerstören. So wenig man also den Hamlet einfach aus der Wirklichkeit heraus spielen kann (zudem eine ganz unrealisierbare, naturalistische Phrase), so wenig kann man ihn einfach aus der Dichtung heraus spielen. […]

Die bestehende Theorie, daß sich aus der Rolle als Dichtwerk allein ergäbe, wie sie gespielt werden muß, bedeutet ein literarisches Ideal, aber kein schauspielerisches. Der Schauspieler ist nicht die Marionette der Rolle. Sondern zwischen der bloßen Wirklichkeitsanschauung und dem Versuch, aus der Literatur herauszupressen, was sie für sich allein nie hergeben kann – steht die schauspielerische Kunst als ein Drittes, aus eigener Wurzel wachsend, weder aus der Wirklichkeit noch aus dem Drama zu erschließen, oder als „Synthese“ zu gewinnen. Sowenig wie man einem Gemälde gegenüber sich die Wirklichkeit vorstellen soll, für die das Bild nur Reproduktionsmittel der Phantasie wäre (das ist die Photographie), sondern wie das Bild sein eigener Endzweck ist, in das die Wirklichkeit hineingeleitet ist, das aber nicht wieder in die Wirklichkeit hineinleitet – so ist auch die schauspielerische Darstellung Hamlets nicht ein Medium, durch das die Phantasie einen realen oder den literarischen Hamlet sieht. Die schauspielerische Kunstleistung ist selbst das Ziel des Weges und nicht eine Brücke, über die hin es zu einem weiterhin gelegenen Ziel ginge.

Es gibt eine ursprüngliche schauspielerische Attitüde, eine schöpferisch gestaltende Reaktion gewisser Naturen gegenüber den Eindrücken des Lebens – gerade wie es eine malerische und eine dichterische gibt. Nur ist all dieses nicht gleich eine für sich stehende Kunstleistung, sondern verwebt in die mannigfaltigen Äußerungen und Praktiken des Tages. Das „Spielen einer Rolle“ – nicht als Heuchelei und Betrug, sondern als das Einströmen des persönlichen Lebens in einer Äußerungsform, die es als eine irgendwie vorbestehende, vorgezeichnete vorfindet – dies gehört zu den Funktionen, die unser tatsächliches Leben konstituieren. Eine solche Rolle mag unserer Individualität adäquat sein, aber sie ist doch noch etwas anderes als diese Individualität und ihr innerlicher und totaler Verlauf. Wer Geistlicher oder |45|Offizier, Professor oder Bürochef ist, benimmt sich nach einer Vorzeichnung, die jenseits seines individuellen Lebens gegeben ist. Wir tun nicht nur Dinge, zu denen die Kultur und Schicksalsschläge uns äußerlich veranlassen, sondern wir stellen unvermeidlich etwas dar, was wir nicht eigentlich sind. Das ist freilich nicht, oder nicht immer, Darstellung nach außen um eines Effektes willen, nicht Vorstellung und Unehrlichkeit, sondern das Individuum geht wirklich in die vorgezeichnete Rolle hinein, es ist jetzt seine Wirklichkeit, nicht nur der und der, sondern das und das zu sein. Im großen und kleinen, chronisch und wechselnd finden wir ideelle Formen vor, in die unsere Existenz sich zu kleiden hat. Sehr selten bestimmt ein Mensch seine Verhaltungsart ganz rein von seiner eigensten Existenz her, meistens sehen wir eine präexistierende Form vor uns, die wir mit unserem individuellen Verhalten erfüllt haben.

Dieses nun: daß der Mensch ein vorgezeichnetes Anderes als seine zentraleigene sich selbst überlassene Entwicklung darlebe oder darstelle, damit aber dennoch sein eigenes Sein nicht schlechthin verläßt, sondern das Andere mit diesem Sein selbst erfüllt und dessen Strömung in jene vielfach geteilten Adern leitet, deren jede, obgleich in einem vorbestehenden Flußbett verlaufend, das ganze innere Sein zu besonderer Gestaltung aufnimmt – das ist die Vorform der Schauspielkunst. Sie wird Kunst, indem sie aus der Lebensrealität heraus abstrahiert und aus einer bloßen, als Mittel in das Leben verwebten Form zu einem eigenen, jenseits der Realität stehenden Leben ausgestaltet wird. Damit soll natürlich kein historischer oder bewußter Prozeß beschrieben sein, sondern nur der Punkt aufgezeigt, wo die Schauspielkunst sich ihrem Sinn nach innerhalb des Lebens erhebt und an dem sich ihr völlig selbständiges Wesen zeigt. In eben dieser Bedeutung sind wir alle irgendwie Schauspieler, wie fragmentarisch auch immer – gerade wie wir alle in abgestuften Maßen Dichter und Maler sind. Wir schauen die Welt um uns herum nie in dem kontinuierlichen Flusse und der Gleichberechtigtheit ihrer Elemente an, wie der wissenschaftliche Verstand uns ihre Objektivität zeigt; sondern unser Auge schneidet allenthalben Stücke heraus, die es gleichsam einrahmt und als geschlossene Ganzheiten behandelt, es gliedert sie nach Vorder- und Hintergründen, es umreißt die Formen und konstatiert die Verhältnisse von Farben – kurz es übt diejenigen |46|Funktionen, die, aus der Praxis gelöst und zu eigener Vollständigkeit erhoben, die malerische Kunstleistung sind. Und so sind wir alle auch Dichter. Nicht nur, wo wir das sprachliche Gefüge über den Telegrammstil hinaus, durch den Reiz von Rhythmus und Ton bestimmen lassen; sondern auch an der inneren Vision, in der sich Existenzen, Schicksale, Gefühle unser selbst und anderer Menschen uns darstellen, wirken die Formen und Geschlossenheiten, die Stilisierungen, Vereinfachungen, die, aus dem Leben herausgehoben und von sich allein aus die Lebensinhalte zu Bildern gestaltend, eben damit das dichterische Kunstwerk zustande bringen.

In diesem Sinne also, in dem wir Dichter und Maler sind, sind wir auch Schauspieler; d. h. das kulturelle Leben zeigt allenthalben die Form: daß das Individuum ohne Falschheit oder Heuchelei seine persönliche Existenz in eine vorbestehende Gestalt metamorphisiert, die zwar aus den Kräften des eigenen Lebens genährt, aber doch nicht die Erscheinung des eigenen Lebens ist. Eine solche – irgendwie fremde – Gestalt anzunehmen, kann durchaus in seiner eigenen Natur liegen, diese Paradoxie gehört nun einmal zu unserer Ausstattung. Und daß hier das Prototyp des Schauspielertums liegt, daß eben diese Funktion Kunst wird, wenn sie für sich, von sich aus die Betätigung bestimmt, statt ihrerseits von der Lebensbetätigung bestimmt zu werden – das ist deshalb so wichtig, weil sich die Schauspielerkunst von diesem Wurzelboden her als etwas genau so Selbständiges zeigt wie Malerei und Dichtkunst. Schauspielen ist keine reproduktive Kunst, denn es ist gar nichts da, was sie als Schauspielkunst reproduzieren könnte, da der Dichter ja nur ein literarisches Werk gibt. Reproduktiv ist ein Schauspieler, der einen anderen kopiert.

Soweit wir sie freilich in dieser Vorform, diesem bloß Lebensmäßigen verwirklichen, bleiben wir noch sozusagen mit halbem Leibe in unserer sonstigen personalen Wirklichkeit stehen, wir fühlen unser eigentliches individuelles und totales Leben noch immer in einer Spannung, wenn auch nicht in einer gegensätzlichen, gegen die Rolle, die uns aus Gründen der Sozialität oder der Religion, des Schicksals oder der Lebenstechnik vorgezeichnet ist, mögen wir sie auch aus tiefsten Trieben und Notwendigkeiten heraus ergriffen haben. Der Schauspieler aber, dem das formale Gleiche in völlig anderer Spezifikation obliegt, täglich wechselnd, in genauester Vorgeschriebenheit |47|des einzelnen, behält nun während dieser Leistung gar keine davon abweichende Persönlichkeit zurück, sein autochthones Dasein geht ohne Rest in die vorgefundene Gestaltung auf. Gerade durch diese Absolutheit des Verhaltens aber läßt er seine „Wirklichkeit“, die ja eine ganz andere ist, die Interessen, Aktionen, Verflochtenheiten des sonstigen Lebens hinter sich, d. h. er übt Kunst – während eben das formal gleiche Verhalten als fragmentarisches zwar eine Vorform der Kunst, aber doch Seite oder Element der empirische Realität bleibt.

Das Zentrum des kunstphilosophischen Problems dem Schauspiel gegenüber lag in der scheinbar ganz einzig dastehenden Tatsache: daß hier ein schon bestehendes Kunstprodukt zum Stoff einer nochmaligen künstlerischen Formung wurde. Dies trieb zu der Alternative: die schauspielerische Leistung sei entweder die Reduktion des Literaturdramas auf den Wirklichkeitseindruck; oder die bloße Vermittlung und Sichtbarmachung des Dramas, seine Überführung in den andern Aggregatzustand, wobei das Schauspielerische mit dem Drama selbst schon gegeben sei und nur herausgeholt zu werden brauche. Die erste Theorie vernichtet den Kunstcharakter der Schauspielkunst, die andre ihre Selbständigkeit und Produktivität. Aber dieser verzweifelten Auswege bedarf es gar nicht, sobald man sich klarmacht, daß die schauspielerische Aufgabe gar kein solches künstlerisches Unikum ist, sondern sich genau wie alle andern Künste aus einer durch das Leben gebildeten Vorform erhebt, die genau so fundamental, nur etwas komplizierter ist wie die der Malerei und der Dichtung. Irgendwelche Gegebenheiten brauchen doch auch diese.

Um einzusehen, daß die Kunstform des dramatischen Stoffes gar nicht das radikale Problem aufgibt, bedenke man jene früheren Formen des Theaters, in denen den Schauspielern ihre Rollen überhaupt nicht Wort für Wort, sondern nur in den allgemeinen Umrissen der Handlung vorgezeichnet waren. Indem der Schauspieler hier, was ihm sonst der Dichter vorzeichnet, selber schuf, indem also die Problematik der Kunst, die über eine schon fertige Kunst kommt, nicht bestand, war doch das Wesentliche und Spezifische des Schauspielertums genau dasselbe, was es in den späteren Fällen war: die Erzeugung eines Bildes von Persönlichkeit und Schicksal, die nicht Persönlichkeit und Schicksal des vorzeigenden Individuums sind. |48|Indem dies aber nicht Verstellung und Lüge ist (da es nicht Realität vortäuschen will), indem dieses Ein-Anderer-Sein vielmehr aus der tiefsten, eigensten Wesens- und Triebschicht des Individuums hervorgeht, erzeugt sich in dieser Paradoxie das spezifisch künstlerische Phänomen. Daß dem Schauspieler die Rolle bis zu jedem einzelnen Wort vorgeschrieben ist, ist nur eine Zuspitzung und Kanalisierung dieser allgemeinen, auch bei einer Improvisation geltenden Aufgabe, prinzipiell schließlich nichts anderes, als wenn dem Porträtmaler sein Modell gegeben ist. So schön die Formel klingen mag, daß der Schauspieler nur dem Drama Leben einflößen soll, nur die Lebendigkeitsform des Dichters darstellen soll – sie läßt zwischen Drama und Wirklichkeit die eigentliche unvergleichliche schauspielerische Kunst als solche verschwinden. Daß jemand die Lebenselemente schauspielerisch gestaltet, ist ebenso ein Urphänomen, wie daß er sie malerisch oder dichterisch oder auch daß er sie erkenntnismäßig oder religiös neu schafft.

Diese Deutung der Schauspielkunst als einer ganz eignen, aus dem Schöpfungsgrund aller Kunst ursprünglich aufsteigenden artistischen Betätigung scheint nun doch über ein letztes Problem nicht zu beruhigen, das aus einem ganz einfachen Erlebnis entgegenkommt. Wer je eine und dieselbe Rolle von zwei bedeutenden Schauspielern in ganz verschiedenen Auffassungen gespielt sah, muß eigentlich von dem Rätsel erregt werden: hier ist eine Gestalt, die der Dichter als eine und nach einem Sinn bestimmte geschaut und geschaffen hat – und nun werden auf der Bühne daraus zwei unvereinbare, nach ganz verschiedenen Richtungen orientierte; und doch eine jede mit seelischer und künstlerischer Konsequenz, in sich geschlossen, keine falscher und keine richtiger als die andere, jede eine erschöpfende und voll befriedigende Ausgestaltung der dichterischen Figur und doch deren Einheit so dementierend, daß ein Zug, der in der einen Auffassung überzeugendste Wahrheit besitzt, gar nicht in die andere zu überpflanzen wäre, ohne deren Wahrheit gänzlich zu zerstören. Nicht um die Mehrdeutigkeit handelt es sich, die an manchen dramatischen Figuren schon als dichterischen haftet, wie am Hamlet. Vielmehr auch die dichterisch völlig eindeutige Gestalt, Coriolan oder Posa, Iphigenie oder Gregers Wehrle, ist schauspielerisch eine vieldeutige. Wie aber ist dies zulässig, ja möglich, wenn die schauspielerische Leistung, bei allem artistischen Eigenbestand, doch von der Intention |49|des Dichters, die eine und nur eine ist, ideell bestimmt ist? Die Selbständigkeit der schauspielerischen Leistung hat sich hier zu der Selbständigkeit der schauspielerischen Individualität zugespitzt. Jetzt ist nicht die Frage nach der künstlerischen Selbständigkeit des Schauspielertums überhaupt, sondern der Individualität des einzelnen Schauspielers. Und auch diese kann weder bestehen, wenn der Schauspieler die eine dichterische Figur darstellt, noch wenn er naturalistisch diejenige Person spielt, die dieser Figur in der Realität entsprechen würde. Wie sehr seine Leistung jenseits beider steht, offenbart jetzt auch die empirische Tatsache, daß es schauspielerisch viele Hamlets gibt, während es sowohl dichterisch wie real nur einen gibt. […]

Dies führt noch einen Schritt weiter in die metaphysische Bedeutung der Kunst. Diese ganze Deutung der idealen schauspielerischen Aufgabe ruht auf der Verselbständigung der Schauspielkunst gegenüber den falsch laufenden Ansprüchen, die einerseits von der Wirklichkeit, der äußeren und der subjektiven, anderseits von dem Drama als Dichtwerk an sie gestellt werden. Es galt einzusehn, daß sie weder von der Natur in irgendeinem Sinn, noch von der Literatur ressortiert, sondern wie ihre Geschwister die autonome Kunstwendung eines ursprünglichen Verhaltens des menschlichen Lebens ist. Nur gleichsam die Verwirklichung, das konkrete Lebendigwerden dieser artistischen Selbständigkeit der Schauspielkunst als solcher war es, daß jeder einzelnen Rolle gegenüber die ideale Forderung sich als die Relation zwischen ihr und der Individualität des Schauspielers enthüllte. Und nun offenbart sich hier mit unerhört weiter Umfassung das Wunder der Kunst überhaupt. Die Schauspielkunst, aus eignem Lebenspol durchaus eigner Kunstnormen entwickelt, von ihrem Letzten her alle Untertänigkeit unter die Wirklichkeit, unter die Dichtung, unter das nackte Naturell ablehnend – erfüllt nun dennoch in ihrer Vollendung die Ansprüche, die von all diesen Seiten erhoben werden.

 

Georg Simmel: „Zur Philosophie des Schauspielers“, in: ders.: Das individuelle Gesetz, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1987, S. 75 – 89

 

Georg Simmel (1858 – 1918), deutscher Philosoph, Soziologe, lehrte an den Universitäten Berlin und Straßburg. Seine wichtigen Veröffentlichungen zum Geld, zur Stadt- und Gefühlssoziologie und zur Mode machen ihn zu einem der maßgeblichen Soziologen des beginnenden 20. Jahrhunderts.

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