Künstlerinsert
Der Meister des Unheimlichen
Die Bildwelten des Theaterregisseurs, Bühnen- und Kostümbildners Ersan Mondtag spiegeln die Ängste unserer Gegenwart
Erschienen in: Theater der Zeit: Unter Druck – Das Theater in Ungarn (04/2018)
Assoziationen: Akteure Staatstheater Kassel Berliner Ensemble Maxim Gorki Theater Münchner Kammerspiele Bühnen Bern Thalia Theater
Dass Ersan Mondtag eine grundsätzliche Faszination für den Horrorfilm hegt, ist ein Glücksfall für das Theater. Es gibt nämlich nicht viele Theaterregisseure, die derart gekonnt mit den Ängsten des Publikums spielen. Musik und Sound sind ihm dabei ebenso wichtig wie Bilder. Noch bevor sich der Vorhang im Schauspielhaus Dortmund öffnet, breiten sich Dunkelgeräusche und Rabengeraune aus: diffus unheilvolle Laute, die bewirken, dass man ich fühlt wie ein Kind, das zum ersten Mal mit Otfried Preußlers „Krabat“ konfrontiert ist. Das Spukschloss, das dann in Dortmund die Drehbühne beherrscht, gleicht einem wahr gewordenen Albtraum. Trockennebel umwölkt das verwinkelte Haus, und auf dem zinnenbesetzten Wachturm patrouillieren Standardisierte. Ihre Uniformen erinnern an vieles, aber nichts Konkretes. Gleichgeschaltete im Gleichschritt. Es handelt sich wohl um Schüler, es könnten aber auch Insassen oder Gefangene sein. Auch wenn das Ganze sich unter dem auf den ersten Blick eindeutigen Titel „Das Internat“ abspielt, kann man sich nicht sicher sein, wo man sich befindet. Es gibt einen Schlafsaal, der eher an ein Lager erinnert, er beherbergt schmale Pritschen, auf denen die Menschen kauern wie Föten im Mutterbauch. Im Speisesaal formieren sich die Figuren immer mal wieder ordentlich, während sich der Waschraum als giftig gelbe Nasszelle erweist, die an real existierende Internatsduschräume erinnert, aber auch Assoziationen an Vernichtungslager weckt.
Wie so oft fungiert Ersan Mondtag in dieser Inszenierung nicht nur als Regisseur, sondern auch als sein eigener, kongenialer Ausstatter. Dabei entwirft er für „Das Internat“ unterschiedliche Angsträume und erweist sich einmal mehr als Meister des Unheimlichen. Oft spiegelt er Ängste der Theaterzuschauer, die gesellschaftliche Ängste ausdrücken. Das war schon in „Tyrannis“ so, seiner Arbeit fürs Staatstheater Kassel, die ihm seine erste Einladung zum Berliner Theatertreffen sowie den Durchbruch bescherte. Die Inszenierung mit dem sagenhaft bunten Bühnendesign verband Märchen- und Horrormotive mit vielfältigen Assoziationsmöglichkeiten zu einer zweistündigen Meditation über die Angst vor dem Fremden. Während die einen damals frenetisch klatschten, gähnten die anderen ausgiebig. An Mondtag scheiden sich die Geister. Den einen gilt er als Abonnentenschreck, den anderen als Bühnenvisionär. In Interviews präsentiert er sich gern als von keinem Selbstzweifel angekränkelt. Bewunderung wie Verachtung schlagen ihm entgegen. Inzwischen ist er so etabliert, dass ihm das egal sein kann. Was ihn von vielen Regisseuren seiner Generation unterscheidet, ist sein unbedingter Formwille. Bei Mondtag bricht sich ein regelrechter, besser: regelwidriger Ausstattungsfuror Bahn, der nicht zufällig ästhetische Parallelen zu den Arbeiten von Vegard Vinge und Ida Müller erkennen lässt, denen Ersan Mondtag zu Beginn seiner Laufbahn assistierte. Folgerichtig erhält Mondtag als Bühnen- und Kostümbildner ebenso viel(e) Aufmerksamkeit und Auszeichnungen wie als Regisseur.
Seine Cinemascope-Bühne für seine zweite zum Berliner Theatertreffen eingeladene Inszenierung „Die Vernichtung“ gleicht einer ambivalenten Landschaft, die Paradiesgarten oder Höllenschlund sein kann. Das Uneindeutige, Unausdeutbare, Vage gehört zu seinem Werk wie die Forderung an die Zuschauer, sich ihre eigenen Geschichten zu imaginieren. „Theater ist Erfahrung, keine Mitteilungsform“, hat Heiner Goebbels einmal festgestellt. Das gilt für Mondtags Inszenierungen in besonderer Weise, erzählen sie sich doch eher über die eigenwillig choreografierten Körper der Darsteller und die eindeutig eingesetzte Musik als über Worte. Form schlägt Inhalt? Nö. Eher: Form gleich Inhalt. Kein Zufall also, dass „Tyrannis“ vollkommen wortlos daherkam. Auch „Die letzte Station“ am Berliner Ensemble besticht weit eher mit atmosphärischen Jenseitsbeschwörungen als mit den Textchen, die sich über letzte Fragen beugen. In „Die Vernichtung“ wiederum klappte das Zusammenspiel auch deswegen hervorragend, weil Text und Inszenierung streng voneinander abwichen, jeweils ein Eigenleben führten. Immer aber sind es die rätselhaft tolldreisten Bilder, die zuvörderst im Kopf bleiben.
Mondtags Anleihen bei der bildenden Kunst sind dabei unübersehbar, lustvoll zitiert er quer durch Hoch- und Populärkultur. In „Das Internat“ drapiert er die Mannschaft derart an einen langen Tisch, dass man unwillkürlich Katharina Fritschs gigantische Skulptur „Tischgesellschaft“ vor Augen hat. Das Werk ist Teil der spektakulären Sammlung des Frankfurter Museums für Moderne Kunst (MMK). Wahrscheinlich kennt Mondtag es, schließlich gab ihm das Museum beziehungsweise Interimsdirektor Peter Gorschlüter jüngst die Möglichkeit, das MMK 2, in Blickweite zum Schauspiel Frankfurt gelegen, mit Werken der Sammlung zu bespielen. Eine besondere Ehre. Durch die mit signalgelbem Plastik ausgeschlagenen Räume schlängelte Mondtag für die Ausstellung mit dem Titel „I Am a Problem“ ein röhrenartiges Etwas, das für den Bandwurm liegen sollte, den die Operndiva Maria Callas sich angeblich mit einem Glas Champagner einverleibte, um überflüssige Kilos loszuwerden. Erschaffen hat den begehbaren Wurm die Künstlergruppe Plastique Fantastique. Die Legende um Maria Callas verweist dabei auf das zentrale Thema der Schau: Selbstoptimierung. Die Werke lassen sich als das ansehen, was die Callas im Laufe ihres Lebens an Bildern und Vorstellungen verschlang. Viele der Exponate erweisen sich zudem als eigenständige kleine Performances. Das gilt etwa für Georg Herolds Arbeit „Verloren gegangener Schöpfungsakt“, die ein Hühnerei in einem aufgeblasenen und mit Wasser gefüllten Kondom schwimmen lässt. Das klingt mitnichten so zart und auf stille Weise dem Ursprung und frühzeitigen Ende des Lebens nachsinnend, wie es sich betrachtet. Das Kondom wird hier zur Fruchtblase und die zur Bühne. Einer Inszenierung gleicht auch Martin Honerts Plastik „Foto“, die einen kleinen Jungen am Küchentisch allein lässt. Mit ein bisschen Fantasie könnte es sich um den jungen Moritz aus „Frühlings Erwachen“ handeln oder um ein x-beliebiges anderes auf der Bühne im Stich gelassenes Kind.
Dass die bildende Kunst auch darstellende Kunst und das Theater umgekehrt auch bildende Kunst ist, weiß Mondtag genau. Auch die Arbeiten der italienischen Künstlerin Vanessa Beecroft siedeln im Zwischenreich von Performance und bildender Kunst; in Mondtags Schau arrangiert sie eine Horde Frauen vor der Kamera und setzt sie, mal nackt, mal digital bekleidet, den Blicken der Betrachterinnen und Betrachter aus. So lässt sich die Ausstellung sowieso als an- und aufregender Parcours zu Frauen- und Menschenbildern aller Art abschreiten. Vorbei an den verwegenen Fotomodellen des Fotografen Juergen Teller, den verschwommenen Weiblichkeiten der Malerin Marlene Dumas, der zauberhaften Frau ohne Unterleib von Rosemarie Trockel, der abstrakten Schönheit auf einem Porträt von Miriam Cahn, um nur einige zu nennen. Dem Körper im Raum und seinen Verpuppungen kommt dabei eine ganz besondere Rolle zu. Genau wie in den Inszenierungen von Ersan Mondtag. Häufig wird er mit der Aussage, Schauspieler seien für ihn nur Requisiten, falsch zitiert, weil er einmal sagte, dass Schauspieler für ihn genauso wichtig seien wie Requisiten. Die Annahme, er möge keine Schauspieler, mag auch damit zu tun haben, dass sie bei ihm oft nicht in ihrer Individualität glänzen. Meist kann man einzelne Figuren kaum voneinander unterscheiden. Gern steckt er seine Spieler in kunstvolle Ganzkörperanzüge, mit aufgemalten Blutkreisläufen („Der alte Affe Angst“) oder angenähten Stoffgenitalien („Die Vernichtung“, „Das Internat“). Das führt manch einen Betrachter zu dem Gedanken, dass es sich bei diesen Wesen um Avatare, Zombies oder Cyborgs handeln müsste. Ein Missverständnis. Es sind vielmehr Menschen, die das Menschsein darstellen. Das Menschsein in Reinkultur. //