Inszenierung
Die Verlagerung von Gewicht(ungen)
Rafi Martins „The ceremony of weight“ in Stuttgart
Erschienen in: double 45: An die Substanz – Material im Figurentheater (04/2022)
Assoziationen: Baden-Württemberg Theaterkritiken Puppen-, Figuren- & Objekttheater FITZ! Zentrum für Figurentheater
Er ruht. Atmet tief aus. An einem Seil, einen Aqua Punching Bag im Schoß. Nach zögernden Annäherungen, werbenden Interaktionen, missglückten Besitznahmen, kraftzehrenden Aktionen – der Performer über das Seil mit dem birnenförmigen Objekt verbunden – sind sie eins geworden. Mit dieser Fermate endet der erste Teil des dreiteiligen Soloabends „The ceremony of weight“ von Rafi Martin.
Martin bringt sich in kreisförmige Bewegungen, dreht in eine Pirouette ein, dann aus, fliegt, vom Gegengewicht emporgehoben. Was für eine scheinbare Leichtigkeit nach all der Mühe, diesem „Standhalten, Durchhalten, Aushalten, Abläufe wiederholen, sich Raum schaffen, Platz einnehmen“, wie es im Programmheft heißt. Der gezeigte Kampf, die Kraft zehrende Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper kann durchaus als Metapher für ein Sich-Abarbeiten an normativen Vorstellungen und Zwängen der Gesellschaft gelesen werden. Rafi Martin identifiziert sich als Transgender Person.
„The ceremony of weight“ ist nicht nur ein Dialog zwischen Mensch und animiertem Objekt. Rafi Martin teilt sich auch über Notizen im Programmheft mit. Der Performer, Figurenspieler, Anthropologe und Soziologe hat sich schon in seiner #TakeCare-Residenz im Jahre 2021 am FITZ Stuttgart mit Schnittstellen der Themenfelder Gender, Kampfsport, Tanz und zeitgenössischem Figurentheater auseinandergesetzt. „Es soll ein symbolischer Forschungsraum sein, die Kunst, Schläge zu geben und Schläge empfangen zu können“, sagt Rafi Martin. Im Kampfsport habe das Empfangen und Geben von Schlägen eine ganz andere Bedeutung als etwa bei brutaler Gewalt gegen Frauen, das wolle er untersuchen, so der Künstler damals in einem Interview mit Katja Spiess, der Leiterin des FITZ.
Untersucht wurde auch der Raum. Er sollte nicht auf seine Funktion als Bewegungsfläche reduziert sein, sondern zum Spielpartner und Spiegel des Inneren erweitert werden. Beteiligt sind zudem Lichträume von Joachim Fleischer; Klangkompositionen von Méryll Ampe führen den Künstler in seinen eher horizontalen Bewegungen und Julika Mayer fügt als Regisseurin zusammen, was zusammengehört.
Und so grollt der Sound bei der Premiere im Theater Rampe in Stuttgart, wenn sich Rafi Martin, von einem Lichtkegel im dunklen Raum erhellt, dem Aqua Punching Bag nähert. In geschmeidigen Bewegungen folgt er den Schlägen einer Trommel aus dem Off. In eingesprochenen Textzitaten philosophischer Positionen zu Selbstverteidigung und Gewalt wird über Missbrauch, Feminismus und über auferlegte weibliche Identität nachgedacht. In einem zweiten Teil folgen O-Töne aus der queeren und antirassistischen Community des Berliner Boxclub Boxgirls (Boxerinnen: Pepe aka Everlyne Odero, Rahel Barra Crowford, Makisig Akin).
Martin drischt nicht auf den Ball ein. Er umkreist ihn, sucht nach Besitznahme, ohne martialisch zu wirken, bringt ihn in Schwingungen.
Deutlich weiter und höher schwingt sich der Performer im dritten Teil seines Solos ein, wird raumgreifender. Dieser letzte dynamische und kräftezehrende Balanceakt endet mit einer Stimme aus dem Off: „Dass mein Körper mir gehört, ist schon Wunder genug.“
www.rafimartin.com
www.fitz-stuttgart.de
Tryout von Rafi Martin, The ceremony of weight. Foto: Erich Malter © internationales figuren.theater.festival