Aufruf
Rede zur Entgegennahme des Kurt-Wolff-Preises 2025
von Harald Müller
Erschienen in: Theater der Zeit: Willem Dafoe – Biennale teatro in Venedig – Ausbildung und Digitalität (05/2025)
Assoziationen: Dossier: TdZ-Geschichte

Ermahnt, kurz zu sprechen, maximal fünf Minuten, bleiben drei Gesichtspunkte, die es vor allem wert sind, heute hier vorgebracht zu werden.
Zunächst: Auch ich danke der Kurt Wolff Stiftung, dass sie heute den Kurt-Wolff-Preis an unseren Verlag, an Theater der Zeit, verleiht – und das völlig zu Recht. Vielleicht darf ich, der ich den Verlag 1993 gründete, mit Partnern, einer von Ihnen ist heute unter uns: es ist Friedrich Dieckmann, vielleicht darf ich den Preis auch als wertschätzende Krönung meiner Arbeit über mehr als 30 Jahre werten. Der heutige Tag ist eine große Genugtuung und Ehre für mich. Ich teile sie mit allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Verlags.
Was auch gerechtfertigt wäre: Hätten wir den Preis bereits eher, vielleicht zehn Jahre eher zugesprochen bekommen, so hätte es ein Mann noch erleben können, dem der Verlag viel verdankt. Ich hätte es ihm sehr sehr gegönnt.
Ich spreche von Martin Linzer, dem lang gedienten Redakteur der Zeitschrift Theater der Zeit und ersten frei gewählten Chefredakteur nach der Wende. Ich nehme ihn symbolisch mit auf in den Kreis der heute hier Prämierten, dessen Denk- und Arbeitsethos die wesentliche Grundlage des Arbeitens in unserem Verlag bildete und noch immer bildet.
Der das TdZ-Gen begründete und es über Jahre und Jahrzehnte unverwechselbarer Theatergeschichte exemplarisch für sich ausdifferenzierte und an uns übergab.
Der uns lehrte, das Theater zu lieben.
Ich fragte ihn gleich zu Beginn unserer Zusammenarbeit Anfang / Mitte der neunziger Jahre, wie das für ihn als Theaterkritiker zusammenpasse: das Theater zu lieben, es gleichwohl aber auch zu kritisieren. Er antwortete: „Sie müssen den Horatier von Heiner Müller lesen, dann wird’s Ihnen helle, lieber Herr Müller.“ Nun, ich wollte mich nicht länger dem Verdacht aussetzen, im Dunklen zu stehen, und ich las Heiner Müller, der Horatier.
Und von den Römern einer fragte die andern:
Wie soll der Horatier genannt werden der Nachwelt?
Und das Volk antwortete mit einer Stimme:
Er soll genannt werden der Sieger über Alba
Er soll genannt werden der Mörder seiner Schwester
Mit einem Atem sein Verdienst und seine Schuld.
Und wer seine Schuld nennt und nennt sein Verdienst nicht
Der soll mit den Hunden wohnen als ein Hund
Und wer sein Verdienst nennt und nennt seine Schuld nicht
Der soll auch mit den Hunden wohnen
Wer aber seine Schuld nennt zu einer Zeit
Und nennt sein Verdienst zu anderer Zeit
Redend aus einem Mund zu verschiedner Zeit anders
Oder für verschiedene Ohren anders
Dem soll die Zunge ausgerissen werden.
Nämlich die Worte müssen rein bleiben. Denn
Ein Schwert kann zerbrochen werden und ein Mann
Kann auch zerbrochen werden, aber die Worte
Fallen in das Getriebe der Welt uneinholbar
Kenntlich machend die Dinge oder unkenntlich.
Tödlich dem Menschen ist das Unkenntliche.*
So, jetzt stehen wir alle im Licht.
Und deshalb folgt Punkt 3 kurz und in Form eines Fragesatzes: Wo bleibt der Champagner?
(* Ausschnitt, zitiert nach „Der Horatier“ von Heiner Müller, Werke 4, Die Stücke 2, hrsg. von Frank Hörnigk, Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2001.)
Die Laudatio von Friedrich Dieckmann ist unter Diskurs & Analyse, Seite 70 zu lesen.