Essay
Zwischen Tanz und Zirkus
Überlegungen zur Ästhetik hybrider Kunstformen
von Jean-Michel Guy
Erschienen in: Arbeitsbuch 2022: Circus in flux – Zeitgenössischer Zirkus (07/2022)
Was den Zirkus der letzten 15 Jahre deutlich charakterisiert, nenne ich Zirkozentrismus, das heißt die Tendenz, eine Verwässerung des Zirkus durch andere Künste so weit wie möglich zu meiden – seien es Tanz, Theater oder Musik. Lange Zeit, von 1968 bis 2000, hat der Zirkus, sicherlich auch um an Legitimität zu gewinnen, freizügig Elemente aus Theater und Tanz entlehnt, ja sogar die Verschmelzung der Künste gelobt. Durch die erlangte Anerkennung kann sich der Zirkus nun wieder auf seine ihm eigenen Probleme und Prinzipien zurückbesinnen. Dieser Herausforderung stellt er sich gegenwärtig. Im Gegensatz dazu, so scheint mir, hat sich der Tanz äußeren Einflüssen gegenüber sehr stark geöffnet, um sich erneut zu hinterfragen, auch wenn seine Neugier gegenüber dem zeitgenössischen Zirkus noch recht verhalten bleibt.
Vor uns könnte der Beginn einer neuen Etappe liegen, die einen neuartigen Dialog zwischen den Künsten ermöglicht. Einen Dialog, der a priori auf Respekt beruht, auf der Berücksichtigung der Belange des anderen, und nicht mehr allein auf dem Bild, das man voneinander hat. Das mag einfach klingen, ist aber sehr schwer umzusetzen, trotz all der wunderbaren Beispiele für Kollaborationen, die ich hier nennen werde.
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