Theater der Zeit

Essay

Zwischen Tanz und Zirkus

Überlegungen zur Ästhetik hybrider Kunstformen

von Jean-Michel Guy

Erschienen in: Arbeitsbuch 2022: Circus in flux – Zeitgenössischer Zirkus (07/2022)

Assoziationen: Tanz Zirkus

„The Flying“ von Mélissa von Vépy. Kompanie Happé. 2020.
„The Flying“ von Mélissa von Vépy. Kompanie Happé. 2020.Foto: Christophe Raynaud de Lage

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Was den Zirkus der letzten 15 Jahre deutlich charakterisiert, nenne ich Zirkozentrismus, das heißt die Tendenz, eine Verwässerung des Zirkus durch andere Künste so weit wie möglich zu meiden – seien es Tanz, Theater oder Musik. Lange Zeit, von 1968 bis 2000, hat der Zirkus, sicherlich auch um an Legitimität zu gewinnen, freizügig Elemente aus Theater und Tanz entlehnt, ja sogar die Verschmelzung der Künste gelobt. Durch die erlangte Anerkennung kann sich der Zirkus nun wieder auf seine ihm eigenen Probleme und Prinzipien zurückbesinnen. Dieser Herausforderung stellt er sich gegenwärtig. Im Gegensatz dazu, so scheint mir, hat sich der Tanz äußeren Einflüssen gegenüber sehr stark geöffnet, um sich erneut zu hinterfragen, auch wenn seine Neugier gegenüber dem zeitgenös­sischen Zirkus noch recht verhalten bleibt.

Vor uns könnte der Beginn einer neuen Etappe liegen, die einen neuartigen Dialog zwischen den Künsten ermöglicht. Einen Dialog, der a priori auf Respekt ­beruht, auf der Berücksichtigung der Belange des ­anderen, und nicht mehr allein auf dem Bild, das man voneinander hat. Das mag einfach klingen, ist aber sehr schwer umzusetzen, trotz all der wunderbaren Bei­spiele für Kollaborationen, die ich hier nennen ­werde.

Drei Kategorien der Begegnung

Zuerst möchte ich die verschiedenen Formen des Miteinanders von Zirkus und Tanz beschreiben. Lange Zeit war ihre Beziehung durch die künstlerische Entlehnung gekennzeichnet, also das gegenseitige Übernehmen bestimmter Elemente (auch wenn der Zirkus dem Tanz hier mehr verdankt als umgekehrt). Die Entlehnung ist bis heute ein Modus gegenseitiger Anerkennung, wenngleich ein minimaler, denn drei neue Formen der Begegnung haben an Bedeutung gewonnen: die Osmose, die Friktion und die Transzendenz.

1. Osmose

Die erste Beziehungskategorie ist die Osmose, die auch Symbiose oder noch einfacher Verschmelzung genannt werden könnte. Ich habe sie auch schon als Mayonnaise bezeichnet, weil aus dem einmal entstandenen Gemisch die einzelnen Bestandteile, Öl und Eier, nicht wieder extrahiert werden können. Typische Formen dieser Kategorie sind der akrobatische Tanz und die Tanzakrobatik. In dieselbe Kategorie können auch weitere Tanzformen mit hohem akrobatischem Anspruch eingeordnet werden wie der Lindy Hop, der im Zirkusstück „Il n’est pas encore minuit“ der Kompanie XY eine wichtige Rolle spielt, sowie den Hip Hop. Die Stücke des Franzosen Mourad Merzouki, Leiter der Kompanie Käfig und des Centre Chorégraphique ­National de Créteil, der übrigens auch erst eine Zirkusausbildung absolvierte, bevor er den Tanz für sich ­entdeckte, werden grundsätzlich dem Tanz zugeordnet, doch die akrobatisch anspruchsvolle Leistung der Tänzer:innen verwischt die Grenzen völlig. Die Stücke des belgischen Choreografen Sidi Larbi Cherkaoui sind zwar im Vergleich weniger akrobatisch, dennoch ist seine Arbeit „Sutra“ zu nennen, die Cherkaoui mit ­Mönchen des Shaolin-Tempels erarbeitet hat.

Ein weiteres Beispiel der Verschmelzung sind Stücke, die auf der Bühne zu relativ gleichen Teilen sowohl Tänzer:innen als auch Artist:innen vereinen und womit nicht mehr erkenntlich ist, welche Akteur:innen welcher Disziplin angehören. So beispielsweise in „Parallèle 26“, das in Zusammenarbeit des Zirkusschaffenden Guy Carrara und der Choreografin Sylvie Guillermin entstand und je vier Performer:innen aus Tanz und Zirkus in einem aus chinesischen Masten bestehenden Käfig vereint. Oder die choreografischen Arbeiten der deutschen Kompanie Overhead Project, ursprünglich gegründet von einem Partnerakrobatenduo, in denen regelmäßig Akrobat:innen und Tänzer:innen gemeinsam agieren.

Außerdem gibt es noch eine weitere Form der ­Osmose, die ich cirque dansé nenne, getanzten Zirkus. Diese Stücke werden von Artist:innen geschrieben und umgesetzt, die vom Tanz nur das wissen, was sie an den Zirkusschulen gelernt und erfahren haben, und sie entspringen unmittelbar beiden Genres: Dem Zirkus, weil Objekte und Apparate zum Einsatz kommen, und dem Tanz aufgrund der fließenden Qualität, der Anmut oder der Eleganz der Bewegungen.

Sehr oft wählen diese Künstler:innen die Bezeichnung Tanz für das Genre, in dem sie ihre Stücke verorten. Und auch das Publikum tut das meist. Marie-Anne ­Michel spricht im Zusammenhang mit ihrer Arbeit am chinesischen Mast von vertikalem Tanz, Mélissa von Vépy und Breno Caetano bezeichnen ihre Kreationen, die direkt oder indirekt vom Trapez oder Vertikalseil inspiriert sind, als danse aérienne, also als Vertikaltanz. Und die Equilibrist:innen auf dem Drahtseil nennen sich ohnehin Seiltänzer:innen.

2. Friktion

Die zweite Kategorie, die ich als Friktion bezeichnet habe, entspräche, um bei meiner kulinarischen Metapher zu bleiben, in etwa einem Fruchtsalat, bei dem die typische Eigenart der einzelnen Zutaten erhalten bleibt, in der Vermischung aber ein neues Geschmacks­erlebnis entsteht. Die einfachste Form solcher Ver­mischung ist die simple Juxtaposition von Tanz und ­Zirkus. Zwei typische Beispiele dafür wären „Tangram“ von Stefan Sing und „4x4“ von Sean Gandini, die beide Tanz und Jonglage vereinen.

Am häufigsten zeigt sich das Konzept der Friktion in Form des choreografierten Zirkus. Artist:innen haben nicht nur Tanzunterricht – klassischen sowie zeit­genössischen – während ihrer Ausbildung an der Zirkus­schule, sie arbeiten auch oft unter der Leitung von Choreograf:innen, während der umgekehrte Fall äußerst selten ist. So werden beispielsweise die Stücke zum Studienabschluss am französischen Centre ­National des Arts du Cirque häufig von Choreograf:in­nen inszeniert. In diese Kategorie fallen die Stücke ­unter der Regie von Philippe Decouflé, Fatou Traoré, Héla Fatoumi und Eric Lamoureux, Francesca Lattuada oder Denis Plassard für und mit den Student:innen des CNAC, die diesem mittlerweile bekannten Beziehungs­typus den Weg geebnet haben.

3. Transzendenz

Die dritte Kategorie der Begegnung, die ich als Transzendenz bezeichne, meint die tatsächliche Überwindung der Genrebegriffe Tanz und Zirkus zugunsten eines neuen Genres oder schlicht der Aufhebung der Genrebegriffe. Vertreter dieses Typus sind Stücke von Kitsou Dubois, Yoann Bourgeois, Phia Ménard, Aurélien Bory … Künstler:innen, die sich sowohl als Choreograf:innen als auch als Zirkusschaffende präsentieren, sich bewusst der einen wie der anderen Zuordnung entziehen und es unter dem Strich bevorzugen, dass ihre Arbeiten als Physical Theatre verstanden werden – oder eben in gar keine Schublade passen.

Hierzu zwei Beispiele: Kitsou Dubois und Phia ­Ménard.

Kitsou Dubois ist eine Choreografin, das ist unbestritten. Sie hat sogar eine Doktorarbeit zum Thema Tanz in der Schwerelosigkeit verfasst. Dazu vereinte sie Tänzer:innen und Artist:innen, mit denen sie gemeinsam unter veränderten Schwerkraftverhältnissen Bewegung untersuchte: zunächst im Schwimmbad und anschließend an Bord eines Flugzeugs im Parabelflug. Als Kitsou Dubois und ihre Mitstreiter:innen, die das Glück hatten, sie bei dieser Erfahrung zu begleiten – darunter der Jongleur Jörg Müller, die Trapezkünstlerin Chloé Moglia, der Trampolinartist Mathurin Bolze und die Tänzerin Laura de Nercy – wieder gelandet waren, versuchten sie immer und immer wieder, das überwältigende Erlebnis der Schwerelosigkeit auf festem Boden nachzuempfinden und neu zu erschaffen. Die Stücke, die so entstanden sind, transzendieren die Kategorien Tanz und Zirkus, und zwar zu Gunsten einer viel grundlegenderen, propiozeptiven Auffassung des Zentrums sowie der Kontur des Körpers. 

Phia Ménard definiert sich als Transgender. Auch ihre Stücke überschreiten Sparten-Kategorien, denn es ist unmöglich, sie eindeutig dem Zirkus oder dem Tanz zuzuordnen. Ihr Stück „Vortex“ würde kein:e Zuschauer:in spontan als Jonglage bezeichnen. Dennoch ­jongliert sie in ihm mit beeindruckender Expertise und höchster Virtuosität unsichtbare Luftströme, indem sie die etwa zwanzig Ventilatoren, die im Kreis aufgestellt sind, in Ausrichtung, Intensität und Zahl manipuliert.

Einige gemeinsame Berührungspunkte

Nach diesem kurzen Überblick über die Beziehungstypen von Tanz und Zirkus komme ich nun zur Frage der gemeinsamen Berührungspunkte. Damit meine ich nicht die konkreten Möglichkeiten einer Begegnung der Künstler:innen in Bars, auf Feiern, in Ausbildungsstätten oder in den sozialen Netzwerken, sondern einzig das – wenn auch wieder recht kurz gehalten –, was Artist:innen und Tänzer:innen gemeinsam haben. ­Natürlich teilen sie zunächst die vieldeutigen Begriffe Bewegung, Körper und Bühnenraum. Ebenso teilen sie, wenn auch auf abstraktere Weise, ein Verständnis von Theatralität, Körperlichkeit und Musikalität.

Was heute aber jenseits aller technischen Fragen Tänzer:innen und Artist:innen auf tieferer Ebene dazu anregt, miteinander zu arbeiten, ist ihre gemeinsame Weltanschauung. Denn beide haben ganz klar vier ­gemeinsame gesellschaftliche Anliegen: 1. die Frage der Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie die Anerkennung einer Diversität jenseits der binären ­Geschlechternormen, 2. die existenzbedrohenden Gefahren für die Menschheit nach der Atombombe, d. h. globale Erderwärmung und Hyperkapitalismus, 3. die Darstellung des Intimen und 4. die Suche nach einer neuen Urbanität. Jeder dieser vier Punkte würde es verdienen, genauer ausgeführt zu werden, ich möchte hier jedoch nur auf zwei von ihnen kurz näher eingehen.

Vor einigen Jahren erschien in Frankreich unter dem Titel „Panorama de la danse contemporaine“ ein umfangreicher Band, der die Arbeit von 100 Choreograf:innen vorstellte. Auf die Frage nach dem A und O ihrer Recherchen gaben sie alle einstimmig zur Antwort: Intimität.

Der Begriff der Intimität war für Zirkusschaffende vor gar nicht allzu langer Zeit noch ein Fremdwort. Man kann sogar sagen, dass gerade der neuerliche ­Einzug des Intimen in Zirkusstücke einen bedeutsamen Schritt in der Transformation des Zirkus darstellt. Ich möchte in diesem Zusammenhang als Pionierstücke die Arbeiten von Phia Ménard hervorheben, die ohne Umschweife ihr Coming-out und die Realität ihrer ­Geschlechtsumwandlung thematisieren, aber auch das Stück „Nos limites“ von Mathias Pilet und Alexandre Fournier oder „TU“ von Mathias Pilet, das ganz explizit autobiografisch ist.

Ein weiterer Schlüsselbegriff ist Dringlichkeit.

Seit den (ohnehin akrobatischen) Stücken eines Wim ­Vandekeybus oder eines Alain Platel, das heißt schon lange, zeigen Tänzer:innen demonstrativ – bis hin zum erschöpften Abgang von der Bühne –, was der klassische Tanz immer zu verbergen versucht hat: die körperliche Verausgabung und die Realität des Schmerzes. Artist:innen drängte es zeitgleich dazu, den umgekehrten Weg zu gehen und zu versuchen, das Publikum Gefahr, Angst und auch das Schwindelgefühl vergessen zu lassen – Effekte, die unmittelbar mit dem traditionellen Zirkus assoziiert werden. Die Sinuskurven treffen sich heute, als Zeichen einer neuen gemein­samen Dringlichkeit: Zahlreiche choreografische und zirzensische Stücke durchzieht ein Hauch von Kataklysmus und Extrem.

Zirkusschaffende stellen wieder vermehrt die körperlichen Anstrengungen zur Schau, und manche richten sogar den Fokus ihres Spiels erneut auf die Angst, so beispielsweise die ihrem Namen alle Ehre machende Kompanie In extremis oder die finnische Race Horse Company. Und auch die Themen Kollaps und Zusammenbruch sind mittlerweile für Artist:innen eine normale Quelle der Inspiration. Das zeigt etwa das neueste Stück der Kompanie Baro d’Ével mit dem Titel „Falaise“, in dem die Wände einer Grotte nach und nach bröckeln und schließlich einstürzen. „Maison-mère“ von Phia Ménard ist auch ein apokalyptisches Stück.

Um abschließend nicht zum Schluss zu kommen, sei angemerkt, dass ich die offensichtlichen „technischen“ Unterschiede zwischen Tänzer:innen und Zirkustänzer:in­nen wahrscheinlich zu sehr vernachlässigt habe: ihre jeweils einzigartige Beziehung zu Räumen, zur Vertikalen, zum Erinnern von Gesten, zur musikalischen Praxis des „Zählens“, zu Spiegelwänden in Studios, zum Markt und des sich „Verkaufens“ …, die ihnen immer noch unerschöpfliche Wege der Begegnung, ja sogar der Konfrontation bieten. Um ihnen das zu ermöglichen, gibt es nichts Besseres – muss ich das überhaupt betonen? – als eine stärkere Zusammenarbeit zwischen Tanz- und Zirkushochschulen und Initiativen wie dem großartigen Festival in Köln.

Paris, 1. März 2020

Dieser Text wurde von Jean-Michel Guy anlässlich der ersten Festivalausgabe des Kölner CircusDanceFestivals verfasst und erschien erstmalig im VOICES Magazin 2021. Hier liegt er in aktualisierter und gekürzter Fassung vor.
Übersetzung aus dem Französischen: Anna Ochs

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