Der antinaturalistische Umbruch in Europa
Edward Gordon Craig und Adolphe Appia
von Joachim Fiebach
Erschienen in: Welt Theater Geschichte – Eine Kulturgeschichte des Theatralen (05/2015)
Die Aufführungen Edward Gordon Craigs zwischen 1900 und 1902 und seine folgenden theoretischen Auslassungen dürften die überragende Manifestation des hier vereinfacht „antinaturalistisch“ genannten Koordinaten- oder Paradigmenwechsels des westlichen hegemonialen Denkens von Theater und der vorherrschenden Praxis seit der Renaissance gewesen sein. Craigs erste Inszenierung, Purcells Oper DIDO UND AENEAS 1900 in London, verzichtete auf deskriptiven Realismus, historische Treue, auf Archäologie und Attrappen. Das Einbildungsvermögen des Zuschauers sollte freien Lauf haben. In der Szene des ersten Akts, die im Palast der Königin Dido spielt, entfaltete sich quer über die Bühne parallel zum Bühnenrahmen ein langes, von Blumen und Schlingpflanzen überwuchertes Flechtwerk, in dessen Mitte der mit scharlachfarbenen Kissen geschmückte Thron der Königin steht, unter einem Baldachin, der von vier zierlich geschwungenen Säulen getragen wurde. Der Prospekt hatte nichts gemein mit den Perspektiven der traditionellen Kulissenmalerei: Ein vom Blau ins Violett hinüberspielendes Gewebe verlor sich nach oben hin im Raum. Craig verzichtete auf Soffitten, Versatzstücke und bewegliche Kulissen. Die Bühne war seitlich abgegrenzt durch zwei Vorhänge, schräg zum Raum aufgehängt und farblich mit dem Prospekt übereinstimmend. Es gab keine Seitenbeleuchtung und kein Rampenlicht. Aus einer die Bühne überragenden Brücke fiel das Licht von oben auf die Spielfläche. Die Beleuchtungsbrücke wurde...