IV. Bertolt Brecht oder Der moderne Schauspieler
Bertolt Brecht oder Der moderne Schauspieler
von Bernd Stegemann
Erschienen in: Lektionen 3: Schauspielen Theorie (12/2010)
Assoziationen: Schauspiel Theatergeschichte
Der nur Nachahmende, der nichts zu sagen hat
Zu dem, was er da nachahmt, gleicht
Einem armen Schimpansen, der das Rauchen
seines Bändigers nachahmt
Und dabei nicht raucht. Niemals nämlich
Wird die gedankenlose Nachahmung
Eine wirkliche Nachahmung sein.
Bertolt Brecht „Über die Nachahmung“1
Das epische Theater war die große Theatererneuerung der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Die Explosionen des Ersten Weltkriegs hatten in der Gesellschaft wie in den Seelen der Menschen große Verwüstungen angerichtet. Die Kämpfe der Ideologien um die Vorherrschaft, wie das soziale Zusammenleben organisiert werden muss, bestimmten die öffentlichen Ausdrucksformen. Revolutionen waren plötzlich Wirklichkeit; ihre blutigen Verläufe und unabsehbaren Folgen ebenso. Auf dem Theater bestimmte der expressionistische Ton die Spielweise. Das große Pathos der leidenden Kreatur, die herausgebrüllten Klagen und Anklagen, die verzweifelten und weltumschlingenden Gesten wurden zum Kennzeichen dieser neuen Ausdrucksform.2 Erwin Piscator, der andere große Erfinder des epischen Theaters, nutzte die technischen Erfindungen seiner Zeit, um die Bühne zum Spiegel der Wirklichkeit zu machen. Seine Inszenierungen benutzten die Dramaturgie der Collage, um wie auf einer Zeitungsseite die zersplitterte Wirklichkeit als Mosaik darzustellen. Die Schauspieler agierten in Simultanbühnen, auf Drehscheiben, vor Filmprojektionen und auf Laufbändern in steter Bewegung. Ihr Dasein auf der Bühne war ein Kampf um eine Stellung |159|in der Welt. Alles geriet in einen Strudel, in dem jeder sich zu retten versuchte. Jede Meinung musste herausgeschrien werden gegen den Moloch der Großstadt, die Taubheit der Welt und die feindliche Ideologie des Mitmenschen.
Die ersten Theatererkundungen Bertolt Brechts fanden in diesem Umfeld statt. Er experimentierte mit den Mitteln der Verfremdung, die jedes Dasein und Spielen auf der Bühne zuerst einmal zu einem unwahrscheinlichen machen. Die Sehnsucht des Naturalismus und Realismus, das Theater als Ereignis und Medium selbst unsichtbar zu machen und allein die sekundäre Realität der gespielten Handlung als überzeugende, berührende und unterhaltende Wirklichkeit erscheinen zu lassen, diese Sehnsucht galt es überwinden. Jedes Mittel, das die Einfühlung des Zuschauers in die Geschichte, sein Hineinsinken in den Theatersessel und die Identifikation mit den Figuren störte, war willkommen. Die Welt war rau geworden, die Menschen verletzt und die Seelen geschunden. Ein Theater, das von dieser Wirklichkeit ablenkt, indem es unterhält, galt als Lüge und Teil der rasant wachsenden Kulturindustrie, in der der Film begonnen hatte, eine dominierende Rolle zu spielen. Das Theater, das sich mehr denn je der Aufgabe verschrieben hatte, die Welt darzustellen und „Spiegel seiner Zeit“ zu sein, musste neue Ausdrucksformen entdecken. Gegen große Widerstände begann diese Arbeit an der Revolutionierung des Theaters auf allen Ebenen zugleich. Es wurden neue Stücke geschrieben, die den neuen Menschen in einer expressionistischen Sprache beschreiben. Und zugleich begann Brecht mit der Entwicklung seiner epischen Dramaturgie. Die Kunst des Bühnenbildes fand Inspirationen in der bildenden Kunst ihrer Zeit. Und das Bild vom Schauspieler erfuhr eine tiefgreifende Veränderung. Ebenso wie die ästhetischen Kategorien und Stile in dieser Epoche sich vervielfachten, standen sich in den „goldenen zwanziger Jahren“ eine fast unüberschaubare Menge an sich widersprechenden Ausdrucksformen im Theater gegenüber. Durch die Anforderungen des Films und den Zwang, einzelne Episoden wiederholbar und ohne Zusammenhang spielen zu müssen, entstand eine Spielweise, die für die Kamera geeignet erschien. (Siehe Kapitel 3)
Für die Entwicklung der „epischen“ Spielweise ist das Theater Bertolt Brechts maßgeblich. Eine Forderung steht am Anfang seiner ästhetischen |160|Überlegungen: Da die Welt verändert werden muss, muss sie als veränderbar gezeigt werden. Wurde durch das Schauspiel des Realismus eine Identifikation mit der Figur aufgrund der Nachvollziehbarkeit ihrer inneren Bewegungen ermöglicht, wird nun gerade diese Verbindung zwischen Schauspiel und Zuschauer gestört. Durch das glaubwürdige und darum nachvollziehbare Spielen einer Figur erscheint sie in ihrer Stellung in der Welt und ihrem Verhalten als zwangsläufig und notwendig. Diese Unabänderlichkeit ist das Resultat einer Darstellung, die eine gespannte Anteilnahme beim Zuschauer erzeugen möchte. In einer modernen Welterklärung wird gerade der Anschein der Zwangsläufigkeit menschlichen Verhaltens als ideologische Verblendung analysiert. Der Mensch ist immer Produkt seiner Umstände und Produzent seiner eigenen Rolle zugleich. Er ist nicht nur das, wozu ihn die Umstände gemacht haben, sondern er hat eine Verantwortung, diese Umstände zu verändern, wenn sie schädlich und menschenunwürdig sind. Jede Darstellung der Welt als „gottgegeben“, als „unabänderlichesVerhängnis“ oder „Schicksal“ leistet nur einer Ordnung Vorschub, die sich selbst nicht infrage stellen lassen möchte, da bestimmte Gruppen von Menschen hieraus Vorteile für sich ziehen. Die Analyseinstrumentarien der Soziologie, Politik und Kunst des 20. Jahrhunderts nehmen sich genau dieser „ideologischen Verblendungszusammenhänge“ an, um sie öffentlich zu enttarnen und die Nutznießer bloßzustellen. Eine grundsätzliche Erkenntnis aus dieser neuen Weltsicht ist, dass die Verhältnisse von Menschen gemacht sind, Menschen von ihnen profitieren und unter ihnen leiden, und dass die Verhältnisse so umgestaltet werden müssen, dass ein gerechteres Verhältnis zwischen Nutzen und Nachteilen für alle entsteht. Das Brechtsche Theater versteht sich als künstlerische Mitarbeit an diesem großen Werk, die Welt in ihren Widersprüchen zu erkennen und erkennbar zu machen. Denn nur wenn die Widersprüche in ihrer strukturellen Gesetzmäßigkeit erkannt sind, können politische Entscheidungen getroffen werden, um diese Widersprüche aufzuheben. Das Theater hat hier eine zentrale Aufgabe, indem es das menschliche Verhalten so darstellt, dass der Zuschauer über die Widersprüchlichkeit des Handelns in konkreten sozialen Situationen analytisch aufgeklärt wird. Hierfür bedarf es einer besonderen Form des epischen Theaters, an deren Entwicklung Brecht sein ganzes Leben gearbeitet |161|hat.3 Das Ziel ist ein neuer Realismus, der nicht das Abbild einer Wirklichkeit liefert, die unterhaltend konsumiert werden kann, sondern die Analyse der verborgenen Widersprüche in der Darstellung der Wirklichkeit erzeugt: „Eine Photographie der Kruppwerke oder der AEG ergibt beinahe nichts über diese Institute.“4 Das bloße Abbild erzählt nichts über die Gegensätze der Interessen. Nur die Darstellung der zugrunde liegenden gesellschaftlichen Gegensätze kann ein realistisches Bild der Welt ergeben.
Für den Schauspieler erwachsen aus dieser künstlerischen Absicht, an der Erklärbarkeit und Veränderbarkeit von Welt mitzuwirken, viele neue Fragen an sein Spiel und große Herausforderungen an seine künstlerische Persönlichkeit. Die Menschen, die nun auf der Bühne gespielt werden, sind nicht mehr durch ihre individuelle Psychologie gekennzeichnet, sondern durch ihre Stellung in der Gesellschaft, die sie in einer spezifischen, widersprüchlichen Art und Weise einnehmen. Der Mensch ist nicht Opfer seiner Umstände oder seines Charakters, sondern er ist immer in einer konkreten sozialen Situation, die er seinem Charakter und seinem gesellschaftlichen Bewusstsein gemäß in einer konkreten Handlung zu bewältigen versucht. Ein solches Agieren auf der Bühne setzt einen Schauspieler voraus, der sich als politisch wacher Zeitgenosse begreift, der „sich freies Urteil, Widerspruchsgeist und soziale Phantasie erhalten“5 hat. Die zentrale Forderung an das Spielen auf der Bühne besteht nun darin, als Schauspieler nicht hinter der Figur zu verschwinden, so wie es der psychologische Realismus Stanislawskis gefordert hat, sondern ganz im Gegenteil selbst in Erscheinung zu treten. Der Schauspieler soll als Zeitgenosse auf der Bühne anwesend sein, und dem Publikum die Verhaltensweisen, Handlungen und Erlebnisse seiner Figur zur Diskussion stellen. Diese doppelte Präsenz von Schauspieler und der von ihm vorgestellten Figur eröffnet für das Theater zahlreiche neue Möglichkeiten.
In der „Straßenszene“ hat Brecht die wesentlichen Neuerungen und ihre Wirkungen exemplarisch zusammengefasst: Ein Unfall ist passiert. Ein Zeuge versucht nun, den umstehenden Passanten, die den Hergang nicht direkt verfolgt haben, den Verlauf des Unfalls möglichst plastisch zu demonstrieren. |162|Hierzu bedient er sich seiner schauspielerischen Mittel, insoweit sie dem Verstehen des Vorgefallenen entsprechend notwendig sind. „Eine Meinungsverschiedenheit unter den Augenzeugen darüber, ob ein Ausruf, den man hörte (‚Obacht’), vom Verunglückten oder von einem andern Passanten herrührte, kann unsern Demonstranten dazu veranlassen, die Stimme zu imitieren.“6 Jeder der Zuhörenden hat ein bestimmtes Interesse an der Schilderung des Unfalls. Ebenso bekommt die Darstellung des Geschehenen durch die Art und Weise, wie der Demonstrant dieses zeigt, eine interpretatorische Richtung. Die schauspielerischen Fähigkeiten sind hierbei nebensächlich, da der Demonstrant die Grenzen seiner eigenen Darstellungsmöglichkeiten kommentieren kann. „Er soll niemanden ‚in seinen Bann ziehen’. Er soll niemanden aus dem Alltag in eine höhere ‚Sphäre’ locken. Er braucht nicht über besondere suggestive Fähigkeiten zu verfügen.“7 Die Vorführung des spielenden Zeugen hat den Charakter einer
Wiederholung. Jemand hat etwas erlebt und will nun die anderen daran teilhaben lassen. Die Mittel, die er dazu wählt, sind von seinen eigenen schauspielerischen Fähigkeiten und der Absicht, die er mit seiner Schilderung verfolgt, abhängig. Sie hat dadurch „gesellschaftlich praktische Bedeutung“ und wird durch Fragen nach den Ursachen und Konsequenzen des Unfalls bestimmt. „Der Chauffeur hat seine Entlassung, den Entzug des Führerscheins, Gefängnis zu befürchten, der Überfahrene hohe Klinikkosten, Verlust seiner Stelle, dauernde Verunstaltung, womöglich Arbeitsuntauglichkeit. Das ist das Feld, auf dem der Demonstrant seine Charaktere aufbaut.“8
Die Straßenszene ist das Modell des epischen Theaters und der dafür notwendigen schauspielerischen Methode. Das wesentlichste Element besteht dabei „in der natürlichen Haltung, die der Straßendemonstrant in doppelter Hinsicht einnimmt; er trägt ständig zwei Situationen Rechnung. Er benimmt sich natürlich als Demonstrant und er läßt den Demonstrierten sich natürlich benehmen. Er vergißt nie und gestattet nie, zu vergessen, daß er nicht der Demonstrierte, sondern der Demonstrant ist. Das heißt: was das Publikum sieht, ist nicht eine Fusion zwischen Demonstrant und Demonstriertem, |163|nicht ein selbständiges, widerspruchsloses Drittes mit aufgelösten Konturen von 1 (Demonstrant) und 2 (Demonstriertem), wie das uns gewohnte Theater es uns in seinen Produktionen anbietet. Die Meinungen und Gefühle von Demonstrant und Demonstriertem sind nicht gleichgeschaltet.“9
Das alltägliche Zeigen bildet das schauspielerische Fundament für die epische Spielweise. So wie im Alltag ein schwierig zu erklärender Sachverhalt nicht nur mit Worten, sondern auch mit Gesten, Mimik und körperlichen Mitteln gezeigt wird, soll der Schauspieler seine darstellerischen Mittel zum Zwecke des Zeigens und nicht für die Verwandlung in eine Figur verwenden. Wie erklärt man einem Kind eine Wendeltreppe? Wie beschreibe ich meinem Kollegen das auffällige Verhalten eines Kellners aus der Mittagspause? Die darstellerischen Fähigkeiten dienen der Wiederholung eines Geschehens. Darüber hinaus soll diese Wiederholung aber auch einer Verstehbarkeit des Geschehens dienen. „Wenn du fertig bist, [rät Brecht dem Schauspieler] soll dein Zuschauer mehr gesehen haben als selbst ein Augenzeuge des ursprünglichen Vorgangs.“10 Voraussetzung für dieses zeigende Schauspiel ist die Beziehung zwischen Schauspieler und Zuschauer, in der beide in derselben Realität agieren. Sie stehen sich quasi Auge in Auge gegenüber. Der eine handelt vor den Augen des anderen, im vollen Bewusstsein, dass seine zur Schau gestellten Handlungen betrachtet werden, und in der bewussten Absicht, dass diese vorgeführten Handlungen angeschaut werden sollen. Dadurch wird das spielerische Zeigen zum Zwecke des Angeschautwerdens, das ein Verstehen der gezeigten Handlungen ermöglicht, zum Grundgestus des Schauspielers. Durch dieses schauspielerische Handeln entsteht eine doppelte Beziehung. Zum einen zeigt der Schauspieler mit den ihm zur Verfügung stehenden darstellerischen Mitteln eine Figur und ihre Verhaltensweisen. Zum anderen zeigt er den Zuschauern mithilfe dieser Figur seine Perspektive auf das Handeln und die Eigenarten dieser Figur. Der Gestus des zeigenden Spielens hat dadurch zwei Richtungen. Zum eine erzählt der Schauspieler durch seine Figur eine Geschichte und zum anderen kommentiert er diese Geschichte als Spieler, indem er seine Distanz zur Figur zeigt. Er entwickelt eine Verbindung zwischen |164|sich und den Zuschauern, innerhalb derer er seine Haltung zur Figur und ihre Geschichte und die Figur und ihre Geschichte zugleich darstellt. Dieser fortlaufende Widerspruch, dass er eine Figur zeigt und über diese Figur etwas erzählt, ist die von Brecht gewünschte schauspielerische Verfremdung. Der Schauspieler wird in keinem Moment „eins“ mit seiner Figur. Die Differenz zwischen ihm und der vorgeführten Figur wird durch die gewählten Mittel der Darstellung zum interpretatorischen Ereignis. Und diese Spielweise ist der schauspielerische Vorgang, der Auskunft darüber gibt, „warum dieser Text, von diesem Menschen, in dieser Situation und in dieser Weise geäußert wird. Dadurch wird der Text zu einem Vorgang. Oder genauer: Er bleibt Text und erfährt durch den Gestus eine Verdopplung. Und aus dem Widerspruch zwischen Text und Gestus entsteht eine dialektische Bewegung, die man Vorgang nennt.“11
Der schauspielerische Vorgang, den Wekwerth anschaulich aus dem „Vorgehen“ des Spielers vor sein Publikum ableitet, ist die Quelle des Theaters. Das Publikum weiß, dass nun Theater gespielt wird, der Schauspieler weiß, dass er nun für ein Publikum Theater spielen wird. Dieses gemeinsame Wissen wird zu keiner Zeit vergessen, sondern es dient als Podium, um allem, was hierauf geschieht, zur Besonderheit und gesellschaftlichen Bedeutung zu verhelfen. Um den Vorgang theatralisch sinnfällig und spielerisch sinnlich zu gestalten, gilt es hierfür gestische Mittel zu finden. Der Einsatz von Masken ist ebenso möglich wie die gegengeschlechtliche Besetzung von Rollen oder die Verschiebung der sozialen Zugehörigkeit. Der Verfremdungseffekt ist Resultat der Arbeit des Gestischen, die der Schauspieler bei der Vorführung seiner Figur zu leisten hat. Die Verfremdung dient wie im Alltag dem Auffälligmachen und der Markierung von einzelnen Elementen. So wie in einem Text einige Worte kursiv gedruckt sein können oder beim Sprechen einzelne Worte besonders betont werden, macht das gestische Spiel auf bestimmte Verhaltensweisen der Figur oder Ereignisse der Handlung aufmerksam.
Der Begriff des „Gestus“ (Quelle 13 und 14) ist einer der komplexesten in der Theorie des epischen Theaters, da mit ihm auf den unterschiedlichen |165|Ebenen des Schauspiels und des epischen Theaters verschiedene Facetten des „Vorgangs“ beschrieben werden. Grundsätzlich hat der epische Schauspieler den Gestus des Zeigenden. Er zeigt dem Zuschauer eine bestimmte Figur, die wiederum über einen sie charakterisierenden Gestus verfügt. Dieser Gestus erzählt etwas über die Figur, ihren Charakter und ihre soziale Zugehörigkeit. Dieser Gestus wird vom epischen Schauspieler vorgeführt, damit der Zuschauer etwas über die Spezifik dieses Menschen erfährt. Dabei ist nicht die Einzigartigkeit des Individuums, sondern das Typische des menschlichen Verhaltens in der besonderen Situation mit der besonderen Eigenart der Figur wesentlich. Um den Gestus der Figur zu finden, „sieht der Schauspieler auf die Leute, als machten sie ihm vor, was sie machen, kurz, als empfählen sie ihm, was sie machen, zu bedenken.“12 Auch diese Verhaltensweise findet Brecht zuerst im Alltagstheater, in dem Menschen andere nachmachen, indem sie die charakterisierenden Eigenarten erkennen und diese dann nutzen, um etwas über den nachzuahmenden Menschen und seine Handlungen zu erzählen. In dem individuellen Gestus dann den gesellschaftlichen Anteil erkennbar zu machen, ist die höhere Kunst des Schauspielers berufen, um von der Parodie zu einer unterhaltsamen Analyse zu gelangen.
Schließlich hat die Szene selbst, in der sich die Figur verhalten muss, einen Gestus. Sie will uns etwas Bestimmtes zeigen, wie etwa: dass Menschen, die zur Sentimentalität neigen, unter Anspannung häufig die falschen Entscheidungen treffen. Und das Theater selbst als öffentliche Äußerung hat einen bestimmten Gestus. Dieser ist im epischen Theater der des „Aushändigens“13: Das Theater macht sich als Theater kenntlich, der Schauspieler tritt auf als Schauspieler und die dargestellten Figuren und Handlungen werden gestisch so vorgeführt, dass den Zuschauern einzelne Ereignisse und Entscheidungen gezeigt werden. Der Handlungs- und Spielfluss wird unterbrochen, die ästhetischen Ebenen und Mittel der Darstellung wechseln sich ab, die Figur wird gebrochen durch Kommentare des Spielers. Das Sich-selber-Zusehen des Artisten wird zum grundlegenden |166|Gestus des Schauspielers. Es gibt keine Verwandlung mehr, die unsichtbar bleiben muss. Stattdessen wird jede schauspielerische Handlung auf der Bühne zur Vorführung eines konkreten, auffälligen Ereignisses. Das „Nicht– Sondern“ ist hierbei eine zentrale Übung, die Brecht empfiehlt: „Der Schauspieler soll bei allen wesentlichen Punkten zu dem, was er macht, noch etwas ausfindig, namhaft und ahnbar machen, was er nicht macht. Er sagt zum Beispiel nicht: ‚Ich verzeihe dir‘, sondern: ‚Das wirst du mir bezahlen.‘ Er fällt nicht in Ohnmacht, sondern er wird lebendig. […] Gemeint ist: Der Schauspieler spielt, was hinter dem Sondern steht; er soll es so spielen, daß man auch, was hinter dem Nicht steht, aufnimmt.“14
Die Vorgänge hinter den Vorgängen sollen erkennbar gemacht werden. Wie die Soziologie die hinter dem gesellschaftlichen Schein verborgenen Gesetzmäßigkeiten und Motive analysiert, soll das Spiel des epischen Schauspielers Aufklärung über das menschliche Verhalten in konkreten gesellschaftlichen Situationen erzeugen. Alles, was die Dinge fragwürdig, unbekannt, erklärenswert erscheinen lässt, ist als schauspielerisches Mittel willkommen.
Einen besonderen Eindruck hat das Gastspiel des berühmten Schauspielers Mei Lanfang auf Brecht gemacht. Durch diesen Darsteller, der ausschließlich Frauenfiguren in der Pekingoper spielte, wurde die schon fast vergessene Kunstform international berühmt. Er vermochte es, selbst im Smoking während einer Abendgesellschaft durch die Vorführung „weiblicher“ Gesten und Bewegungen eine Frau erscheinen zu lassen und doch während der Darstellung selbst vollständig präsent zu bleiben. Diese artistische Kunst des „doppelten Zeigens“ war für Brecht die höchste Schauspielkunst und die künstlerischste Arbeit zugleich. Der Schauspieler stellt eine Figur her und zeigt zugleich, dass und wie er diese Figur herstellt. Wir sehen dem Schauspieler bei dieser Arbeit zu, und der künstlerische Vorgang des Schauspielens wird zu einer gesellschaftlich relevanten Arbeit, sich über das soziale Leben der Menschen und ihre Eigenarten öffentlich zu verständigen.
Im gegenwärtigen Theater ist die Trennung von Akteuren und gespieltem Vorgang, gespielter Figur oder performativem Dasein auf der Bühne so selbstverständlich (siehe hierzu Kapitel 5), wie die Sichtbarkeit von |167|Scheinwerfern und Bühnentechnik. Die Illusion einer Vierten Wand und das Vergessenmachen des Theaters ist keine ästhetische Kategorie mehr und wäre wohl auch mit der aufgeklärten Zuschauerhaltung unvereinbar. Einen großen Unterschied gibt es jedoch zur Brechtschen Erfindung dieser doppelten Präsenz auf der Bühne. Die Haltung des Schauspielers zu seiner Darstellung ist nicht mehr selbst Thema. In der Formulierung des Marxismus würde man heute von einem „mangelnden Klassenstandpunkt“ sprechen. Der Schauspieler agiert nicht als Vertreter einer Klasse, die aufgrund ihrer Klassenzugehörigkeit über eine Weltsicht verfügt, die die alltäglichen Phänomene als Teile eines größeren Zusammenhangs beschreibbar macht. Aus der Perspektive der proletarischen Klasse, die sich über ihre gesellschaftliche Stellung selbst aufgeklärt hat, lassen sich die Verhaltensweisen des Chefs gestisch klar erkennen und pointiert darstellen. Ohne diesen Überbau einer Weltsicht zerfällt in der Beobachtung die Wirklichkeit in Einzelereignisse, deren Darstellung nur durch individuelle Lösungen erfolgen kann. Die Analyse des epischen Theaters benötigt die beschriebene Trennung der Elemente auf der Ebene der Schauspieler und der Fabel, um die Vorgänge hinter den Vorgängen darzustellen. Die Beobachtungsfähigkeit wird durch das epische Theater geschult, um die verborgenen Mechanismen der Macht und der Abhängigkeit in den Gesten und Handlungen der Menschen zu erkennen. Dieses Training in der Wahrnehmung von Latenzen hat seine Voraussetzung darin, dass die Schauspieler ihre Figur unter der Perspektive ihrer Zugehörigkeit zu einer konkreten gesellschaftlichen Klasse zeigen. Wenn das epische Spiel dieses Fundament nicht mehr hat, bleibt nur die schauspielerische Technik übrig, ohne Einfühlung und ohne glaubwürdiges Erleben und Handeln auf der Bühne dennoch schauspielerische Behauptungen machen zu können. Die epische Spielweise wird zu einer Technik der Distanzierung, in der der Schauspieler schnell und meistens unterhaltsam Figuren und ihr Verhalten darstellen kann, ohne den langen Weg der Erarbeitung einer glaubwürdigen Verkörperung zu gehen. Die simpelste Form dieser epischen Spielweise ist heute in der Comedy zu sehen. Hier werden skizzenhaft typische Charaktere in alltäglichen Situationen vorgestellt, denen Überraschendes passiert, auf das sie dann in den engen Grenzen ihrer Typologie reagieren. Die Verwandlungsfähigkeiten |168|können hier virtuos sein und doch bleibt es eine reduzierte Form des Schauspiels. Die Distanz, die in der Brechtschen Variante des epischen Spiels aufgemacht wurde, sollte ursprünglich mit einer doppelten Arbeit gefüllt werden. Zum einen diente sie dazu, dass der Schauspieler seine Vorstellung des Gezeigten zur Grundlage des Spiels machen konnte. Zum anderen wurde der Zuschauer hierdurch in die Lage versetzt, mit seinem Urteil zwischen die Vorgänge der Darstellung zu kommen. In der Comedy-Spielweise bietet die Distanz eine einfache Möglichkeit des schnellen Wechsels zwischen den verschiedenen Figuren und erzeugt Darstellungen, die als Klischee ein einfaches Wiedererkennen ermöglichen. Sie dient also der Unterhaltung, nicht der Mitarbeit des Zuschauers. Die Varianten des epischen Spiels zwischen diesen beiden extremen Polen sind vielfältig. Die Art und Weise, wie die doppelte Präsenz des Schauspielers genutzt wird, entscheidet darüber, ob diese Spielweise einen eigenen Wert erhält oder ob sie als Mittel der Unterhaltung dient. Wird der schauspielerische Vorgang zu einer Arbeit, die als Spiel in der Gesellschaft ein ungewöhnliches Angebot an die Gesellschaft macht, oder bleibt das Spiel eine Form der Belustigung, die der abendlichen Ablenkung dient? Dass Brecht selbst seiner eigenen Theorie und ihrem Bemühen, mit Hilfe von Texten einen neuen gesellschaftlichen Schauspielstil zu entwickeln, humorvoll begegnen konnte, zeigt eine von Giorgio Strehler aufgeschriebene Begegnung von Brecht mit jungen Intellektuellen in Mailand:
„Junger Linksintellektueller: „Maestro …“
Brecht (zum Dolmetscher): „Sagen Sie ihm, ich bin kein Maestro.“
Linksintellektueller: „Hier, im Neuen Organon, sagen Sie, daß das epische Theater …“
Brecht: „Das, was ich im Neuen Organon sagte, ist bis zu einem gewissen Grad richtig, es sind Hinweise für die anderen. Verlaßt euch nicht zu sehr darauf. Theater wird auf der Bühne gemacht. Und außerdem ist alles noch zu klären. Die Erfahrung zählt, das Experiment, die Realität muß begriffen werden … […] Spielt Theater, lebt die Politik, dann könnt ihr auch weniger lesen.“15
Bertolt Brecht: „Gedichte aus dem Messingkauf“, in: ders.: Schriften zum Theater, Bd. V, Frankfurt am Main 1963, S. 250.
Günther Rühle: Theater in Deutschland 1887 – 1945, Frankfurt am Main 2007.
Hierzu Lektionen 1 Dramaturgie, Kapitel VIII und IX.
Bertolt Brecht: Der Dreigroschenprozeß (1931), in: ders.: Gesammelte Werke in 20 Bänden, Frankfurt am Main 1967, Bd. 18, S. 161.
Bertolt Brecht: Schriften zum Theater, Bd. V, Frankfurt am Main 1963, S. 152.
Ebd., S. 74.
Ebd., S. 74.
Ebd., S. 75.
Ebd., S. 79.
Hans Martin Ritter: Das gestische Prinzip, Köln 1986, S. 98.
Manfred Wekwerth: Theater und Wissenschaft, München 1974, S. 112.
Bertolt Brecht op. cit. nach Gerhard Ebert: Improvisation und Schauspielkunst, 4. Aufl. Berlin 1999, S. 94.
Ritter: Das gestische Prinzip, a.a.O., S. 105.
Bertolt Brecht: „Anweisungen an die Schauspieler“, in: ders.: Schriften zum Theater, Bd. IV, a.a.O., S. 32.
Giorgio Strehler: Für ein menschlicheres Theater, Frankfurt am Main 1977, S. 87.