Auftritt
Deutsches Schauspielhaus Hamburg: Partitur des Patriarchats
„Bernarda Albas Haus“ von Alice Birch nach Federico García Lorca – Regie Katie Mitchell, Bühne Alex Eales, Kostüme Sussie Juhlin-Wallen, Komposition Paul Clark, Melanie Wilson, Original-Sounddesign Melanie Wilson
von Peter Helling
Assoziationen: Hamburg Theaterkritiken Katie Mitchell Schauspielhaus Hamburg
Bernarda Alba (Julia Wieninger) sperrt das Gatter zum Hof zu. Kontrolliert die Türschlösser. Geht von Zimmer zu Zimmer und knipst das Licht aus: Die Hausherrin, ganz in Schwarz, schwarzer Rock, schwarze Bluse, flache Schuhe, klimpert mit den Schlüsseln. Es scheint, als gehe sie durch Wände. Kein Lächeln, kein Wort. Nur das Grillenzirpen, mal bellt ein Hund. Ihr Haus ist ein Gefängnis für alle, die darin wohnen. Auch für sie selbst. Und anschließend? Kommen die Bewohnerinnen wie in Zeitlupe an den Esstisch. Bernarda Albas Mann ist gestorben, und die Witwe hat verfügt, dass ihre fünf Töchter acht Jahre Trauer halten müssen. Kein Mann, keine Abwechslung – sondern Isolation. Plötzlich bricht das Licht aus dem Halbdämmer wie von einem unsichtbaren Schalter betätigt ins Taghelle, fällt die Szene in Normalzeit: Alltag. Zwar freudlos, aber Alltag. Junge Frauen im Gespräch, plaudernd. Diese Rhythmuswechsel sind bezeichnend für die hochpräzise Regie von Katie Mitchell: Sie inszeniert eine Partitur aus Worten und Gesten, spielt mit der Zeit, mit Beschleunigung und Stillstand, konstruiert ein Uhrwerk der Verzweiflung. Alles gedrosselt. Eine Ohrfeige der Mutter, das Verbrühen der Hände durch kochendes Wasser: Das sind eruptive, seltene, umso brutalere Momente. Man spürt in jeder Sekunde, dass sich hier eine Katastrophe anbahnt. Bernarda Alba vollzieht die Gewalt der Männer, sie besitzt ihre Töchter.
Das Haus von Bernarda Alba ist ein aufgeschnittenes schmuckloses Gebäude mit zwei Geschossen, sieben Kammern oben, fast alle ohne Fenster, unten ein Esszimmer, Diele, eine Küche und eine Art Innenhof, den ein Eisengatter versperrt. Die Konstruktion füllt die ganze Bühne, entworfen hat sie Alex Eales. Bald taucht am Gatter die Silhouette eines Mannes auf. Katie Mitchell arbeitet mit Unsichtbarkeit, mit Ahnungen, Schatten, manchmal auch mit einem nur fernen Hintergrundgeräusch, einem wiehernden Pferd, einem vorbeifahrenden Krankenwagen (Komposition Paul Clark, Melanie Wilson). Auch wenn in ihrem Stück – wie im Original von Federico García Lorca – nur Frauen zu Wort kommen: Das Patriarchat bestimmt alles. Die Frauen haben es verinnerlicht, es funktioniert auch ohne die physische Anwesenheit von Männern. Die britische Autorin Alice Birch hat das Stück von Federico García Lorca aus dem Jahr 1936 – es war sein letztes vor der Ermordung durch Faschisten im spanischen Bürgerkrieg – in eine Partitur der Simultanität umgeschrieben, mit einer heutigen, nüchternen Sprache, einem fast filmisch genauen Erzählduktus (Übersetzung Ulrike Syha). Die Dialoge sind ineinander verzahnt, sie greifen ineinander, werden zur hochkomplexen Sprachoper. Wenn eine intime Szene in einem Zimmer rechts oben gespielt wird, verschränkt sie sich mit bis zu vier anderen im Haus. Eine hört verbotenerweise Musik mit Kopfhörern, sie tanzt. Die anderen Körper reagieren scheinbar darauf. Eine macht sich die Fußnägel, eine andere räumt die Spülmaschine aus, schnürt sich den Kittel zu (Kostüme Sussie Juhlin-Wallen).
Dieses Gefängnis steckt voller Leben, das macht die Inszenierung zu einem Ereignis. Die größte Stärke dieser Arbeit ist das Zusammenspiel der Frauen: Julia Wieninger als Bernarda Alba, gnadenlos, doch von einer Härte, die manchmal porös wirkt. Das sieht man, wenn sie sich eine Zigarette ansteckt oder wenn sie eine Nachbarin eine Spur zu lange in die Arme schließt, eine Ahnung körperlicher Sehnsucht. Ihre Mutter haust links oben; nah am Wahnsinn fantasiert sie sich junge Männer herbei, zieht sich ihr altes Hochzeitskleid an. Bei ihr ist die Isolation in eine innere Freiheit gekippt, sie ist der Fehler im Gewebe, wird von den anderen Frauen immer wieder eingefangen, ruhig gestellt. Bettina Stucky verleiht der Figur seelische Wucht. Und dann die Töchter, an denen sich die Grausamkeit der stillstehenden Zeit ermessen lässt: Angustias, die Älteste (glasklar: Eva Maria Nikolaus mit fast sprödem Trotz), darf als einzige heiraten. Sie stammt aus erster Ehe Bernarda Albas, hat reich geerbt, ihr hängt aber schon der Ruf an, zu alt, zu unattraktiv zu sein: Ihr Verlobter, dieser Schatten am Gatter, will ihr Geld, will aber auch den Körper der jüngsten Tochter Adele. Das Brutale: Die Frauen vergiften sich gegenseitig mit ätzenden, eifersüchtigen Sätzen, weil sie den männlichen Blick auf ihre Körper zu ihrem eigenen machen. So gesehen ist Bernarda Albas Haus unsere Welt, wir alle wohnen darin. „Das Patriarchat muss sich ändern“, sagt Katie Mitchell in einem Interview. „Die Gewalt von Frauen an Frauen, ausgelöst durch ein männliches System, ist alarmierend. Die Zahl der Femizide in Europa, Morden an Frauen, weil sie Frauen sind, steigt.“ Sie nennt ihre Arbeit „forensisch“, untersucht die Gewalt an Frauen kriminologisch, legt Ursachen frei, Symptome. Sie antizipiert ein Verbrechen, führt es „vor“, bevor es geschieht.
Katie Mitchell schafft eine Bühnenzeit, die der Echtzeit einen Streich spielt. Die Inszenierung lebt vom organischen Ineinandergreifen, von Gleichzeitigkeit, vom Morsealphabet der an- und abgeschalteten Zimmerbeleuchtung. Lebenszeichen einer weiblichen Existenz, die unfrei, fremdbestimmt ist. Die handwerkliche Präzision von Katie Mitchell und dem fabelhaften Ensemble gefriert nie zur kalten Mechanik. Vielmehr erzeugt sie eine Art Flimmern, eine Schwarmintelligenz und Schwarm-Verzweiflung, die sich irgendwann gewaltsam entladen muss. In der Detonation am Ende, in der Selbstzerstörung.
Erschienen am 7.11.2024