Magazin
Die ganze fucking Zeit
Helene Hegemanns neuer Roman „Striker“ erzählt von einer verschlungenen Gegenwart in Angst
Erschienen in: Theater der Zeit: Florentina Holzinger – Performing Power (04/2025)
Assoziationen: Kritiken

N ist Boxerin, nicht aus Talent, sondern aus Angst. Ihr Leben, in dem sie sich auf einen Kampf vorbereitet, besteht aus „einer Aneinanderreihung von Vorbereitungen darauf, sich das nächste Mal die Fresse einschlagen zu lassen“. Überhaupt ist das Berlin, in dem sie lebt, eines, das von Angst geradezu durchsetzt ist. Es ist nicht die Angst, selbst getötet zu werden, sondern die Angst, zu töten, die Helene Hegemann in ihrem neuen Roman fasziniert. Es ist Angst, die ganze fucking time. Und der Kampfsport eine Welt, die sich um Macht, Unterwerfung und Kontrolle dreht. Des anderen und von N selbst.
Das Berlin, durch das sich die Protagonistin N bewegt, ist unwirtlich und dreckig. Meistens ist sie allein. „Striker“ lanciert als postmoderner Großstadtroman, in dem Hochglanzkapitalismus und größte Nöte kollidieren. Es ist eine Stadt, in der Taylor Swift, Veganismus und Kriminalität ineinandergreifen, denn „es ist schwer, die Rich Kids von den Obdachlosen zu unterscheiden, weil Mode nicht mehr ohne diese verwitterte, gewalttätige Aura auskommt, für die Balenciaga gerne mal 1.500 Euro pro T-Shirt kassiert“. Da sind die Obdachlosen am Kanalufer, „die Junkies und die Schizophrenen, ihre Kämpfe, ihre arteriellen Verschlusskrankheiten und Geschwüre, die Scheiße an ihren Ärmeln, weil sie sich damit den Arsch abwischen, Gewebe, dem man beim Absterben zugucken kann“, die Menschen, denen sich N näher fühlt als ihrem Trainer Jürgen – eine Art Greifswalder Samurai –, und ihrer Affäre, eine Politikerin im Verteidigungsausschuss – just Berlin things. Eine Welt in einer Stadt, in der die Menschen, die sie bevölkern, eine „Existenz allesamt unter einem Fallbeil führen, als könnten sie jederzeit geköpft werden“.
Eines Tages sind an der Brandmauer vor Ns Fenster Zeichen zu sehen. Rätselhafte Semantik, schwebend. Gleichzeitig taucht im Hausflur eine Frau auf, Ivy. Sie ziehe mit ihrem Partner, mit dem sie telepathisch verbunden sei, in der Nachbarwohnung ein. Ihr Realitätsstatus ist für N anfangs so unklar wie jener der Zeichen, die sie in der Stadt sieht. Nach und nach wird Ivy jedoch von einer Art internen Bedrohung zu einer Romanfigur, anhand derer Ns eigene Sorgen um sozialen Abstieg ausagiert werden.
Überhaupt, die verschlungene Gegenwart und die Angst, die sie auslöst, wo Gefühle zu Fakten und Fakten zu Einbildung werden können, kann auch der Nährboden für Verschwörungstheorien werden, die die junge Frau verbreitet. Urheber dieser Überzeugungen scheint ein Mann namens Striker zu sein, ein Sprayer, in dessen Szene es „manchen um nichts anderes gehe, als sich selbst zu spüren, in irgendeiner illegalen, suizidalen Extremsituation“. Wie beim Kampfsport, wie in der Angstbewältigung.
Das bei Helene Hegemann obligatorisch gewordene Quellenverzeichnis verweist auf die „Spiritual Letters“ von Mr Paradox Paradise, die das reale Berlin markieren und auch tatsächlich zeichnen.
Helene Hegemann erzählt mit gewohnter Wucht und Eindringlichkeit von der Welt, in der wir leben, und von deren Gleichzeitigkeiten und Ungerechtigkeiten. Sie erzählt von der Gegenwart, oder, wie sie schreibt, von der „komplizierten Verflochtenheit […], die eine echte Auseinandersetzung mit dem bedeutet, was Gegenwart heißt“. Es ist keine zynische Erzählhaltung, obwohl man die vermuten könnte angesichts der im Text aufgezählten Schrecken, es ist eine Erzählhaltung der Traumaresponse, der Hyperwahrnehmung von Zeichen und der Bewältigung der Todesangst. Der Erzählhaltung liegt eine rohe, ungeschützte Weltwahrnehmung zugrunde, eine „Generalisierte Zittrigkeit“ der Protagonistin, die sie schwanken lässt zwischen „Absurdität und Ernst, Gefahr und Sicherheit, Tod und Leben“. Und die die Wahrnehmung eines nihilistischen Abgrunds in den Augen von Ns Umfeld ermöglicht – ein Nichts, angesichts der Schrecken der Welt, in der wir leben –, die die Angst gleichsam begründet und perhorresziert. So verzweifelt die Politikerin nicht am Zustand von Geiseln, deren Freilassung aus einer nicht näher definierten Gefangenschaft sie verhandelt, sondern am Transport eines Esstischs über Ebay-Kleinanzeigen.
Eine Gegenwartsdiagnose der Angst und der permanenten Überforderung angesichts unvorstellbarer Gefahren: „Das Absurde befreit nicht, es bindet“ laut Camus.
Helene Hegemann: Striker
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2025, 192 S., € 23 (Hier bestellen)