Rezension
Heiner Müllers Bilder-Schreibung
Eine Monografie untersucht das Verhältnis Heiner Müllers zur Bildenden Kunst
von Florian Vaßen
Erschienen in: Theater der Zeit: Ukraine – Theater zwischen Krieg und Exil (02/2025)
Assoziationen: Buchrezensionen Heiner Müller
Bildende Kunst und Theater bilden nicht erst seit den ästhetischen Formen der Performance und der Installation eine sehr produktive, aber auch widersprüchliche Konstellation. Über das Bühnenbild und weiteres Bildmaterial im Inszenierungsprozess hinaus spielen „bildkünstlerische Bezüge“, so Nils Emmerichs in der Einleitung, auch in vielen Theatertexten eine große Rolle. Einen besonderen Bezug zur Bildenden Kunst lässt sich bei Heiner Müller feststellen, der in seiner Autobiografie „Krieg ohne Schlacht“ schreibt: „Bildende Kunst war für mich seit den 60er Jahren wichtiger als Literatur, von da kamen meine Anregungen.“
Die vorliegende Publikation füllt nicht nur eine gravierende Lücke in der Forschungsliteratur zu Heiner Müller, sie bietet auch die Möglichkeit, über das Verhältnis des heutigen Theaters und der Bildenden Kunst nachzudenken und es weiterzuentwickeln.
In einem großen Spannungsbogen von dem frühen Gedicht „Bilder“ bis zur „Bildbeschreibung“ wird Müllers „Abwendung von Brecht“ mit seiner Vorliebe für die „erzählerische Malerei Brueghels“ und die Hinwendung zu Picassos kubistischen Bildern sowie zum Surrealismus mit Stationen bei der „‚gotischen Linie‘“ der Donauschule (Cranach, Dürer) und Friedrich Schlegels Kunstverständnis dargestellt.
Müller versteht „Kunst als Reflexion des eigenen Blicks“ und bezieht sich in seinen Theatertexten sowohl auf Tintorettos „radikale Subjektivität“ als auch auf Goyas vor allem körperliche Revolte. Auch auf William Hogarths Kupferstiche wird in einem Exkurs Bezug genommen. Von besonderem Interesse ist jedoch der Aspekt der „inneren Collage“, die bereits in „Der Bau“ (1964) zu finden ist und schließlich 20 Jahre später in „Bildbeschreibung“ ihren Höhepunkt findet. Raffael spielt hier ebenso eine Rolle wie der „Antinaturalismus“ sowie vor allem „Traum und Mythos als Interferenzen“ bei Max Beckmann und Müller. Großen Einfluss auf Müllers Theatertexte hat weiterhin Robert Rauschenbergs „plastische Collagetechnik“ (mit Bezug zu John Cages Musik und Merce Cunninghams Tanz).
Müllers „Gundling“ steht für Emmerichs in den siebziger Jahren im Mittelpunkt der Reflexionen zum „lebendigen Bildwerk“, geprägt von einer „enigmatischen Koordinate“ und dem Gewaltaspekt in einer „Konflikt-Collage“. Fünf Diapositive in Müllers Besitz (Gemälde von Vermeer, Leonardo da Vinci, Rubens, Honthorst und Bellotto) mit Bezügen zu Caravaggio und Poussin bilden eine spezifische Basis für Müllers „Bildmaschine“, insbesondere in Bezug auf „Gundling“ – auch als Kontrast zu „Brechts Theatermaschine“. Exkursartig wird ebenfalls Müllers Distanz zu Warhol sichtbar. Zentral ist schließlich die Interferenz von „Gundling“ und Max Ernsts Collageromanen als „bildschöpferischer Vorgang“, besonders konzentriert in Müllers Vogel-Bildern (vgl. Magritte). Im letzten Kapitel, das „als Nachwort fungiert“, aber diese Funktion nur bedingt erfüllt, werden mit Erwin Panofskys „dreistufigem Analyse- und Interpretationsmodell“ nicht die sichtbare Welt, sondern „die Zwischenräume“ in Müllers „Bildbeschreibung“ erfahrbar.
Die Untersuchung ist sehr materialreich, wie eine Vielzahl von Müller-Zitaten zur Bildenden Kunst (gelegentlich fast zu viele und zudem etwas redundant) u. a. auch aus dem Heiner Müller Archiv belegt. Vor allem aber die vollständige Auflistung von Hunderten von Publikationen aus „Müllers Kunstbibliothek“ im Transitraum der Berliner Humboldt-Universität auf mehr als 30 Seiten (S. 189–224) zeigt Müllers intensive Auseinandersetzung mit der Bildenden Kunst und bietet eine wichtige Grundlage für weitere Forschungsvorhaben und Theaterprojekte.
Emmerichs „induktive Vorgehensweise“ „eines Flaneurs“, wie er selbst formuliert, entspricht einem Rhizom, das den Leser:innen die Lektüre wegen einer gewissen Unübersichtlichkeit nicht gerade leicht macht, das aber produktiv mit Müllers multidimensionalem und dynamischem Geflecht von Literatur und Bildender Kunst korrespondiert und neue Sichtweisen und Erkenntnisräume möglich macht.
Nils Emmerichs: Heiner Müllers Bildmaschine. Malerei Graphik und Collage als künstlerische Textur. Wien, Böhlau 2024, 225 S., € 45 (Hier bestellen)