Protagonisten
Mehr, mehr … Zukunft!
Was in der Realität noch warten muss, kann in der Kunst des kongolesischen Tänzers und Choreografen Faustin Linyekula schon mal erträumt werden
von Renate Klett
Erschienen in: Theater der Zeit: Alexander Kluge: Tschukowskis Telefon – Umwege zum Realismus (12/2015)

Gern zitiert Faustin Linyekula den senegalesischen Bildhauer Ousmane Sow, der erklärte: „Ich bin Afrikaner, ich bin Künstler, aber ich bin kein afrikanischer Künstler.“ Will sagen: Nehmt uns als Künstler ernst, statt uns in der Ethno-Ecke zu hätscheln. Den wohlmeinend abschätzigen Kommentar „Pas mal – pour l’Afrique“, mit dem Festivalbesucher einst das ihnen Fremde lobten, traut sich heute keiner mehr laut auszusprechen, aber in vielen Köpfen ist er weiterhin präsent. Der Rassismus ist ja nicht verschwunden, nur weil er schweigt.
Linyekula wurde 1974 in Ubundu geboren, einem Dorf im Nordosten der Demokratischen Republik Kongo, die damals auf Geheiß des Diktators Mobutu Zaire hieß. 1982 zog die Familie in die Großstadt Kisangani, wo Linyekula später Literatur und Theater studierte und in der er auch heute wieder lebt. Als Mobutu die Universitäten schließen ließ, emigrierte er nach Nairobi; dort begann er, sich für Tanz zu interessieren und gründete 1997 gemeinsam mit dem kenianischen Choreografen Opiyo Okach die erste zeitgenössische Tanzkompanie des Landes, die Compagnie Gàara. Linyekula probierte vieles aus, zog nach London, um sich mit Theater zu beschäftigen, wurde nach Kenia abgeschoben, blieb dort eine Zeit lang und ging dann nach Frankreich, wo er seine Tanzstudien fortsetzte, bei Mathilde Monnier arbeitete, bei Régine Chopinot sowie mit dem Südafrikaner Gregory Maqoma.
Obwohl er viel Anerkennung fand, kehrte er in den Kongo zurück. Das ist typisch für ihn – weil er es wichtiger findet, Kunst zu machen für sein Land und dessen Bewohner/-innen als für westliche Festivals. Das sagen viele, aber ihm glaubt man es. Er will Verantwortung übernehmen, sich stellen und „etwas ausrichten, selbst wenn es nur etwas Kleines ist, aber etwas, das hilft, das Land zu verändern“. Sein Beitrag ist seine Kunst und, genauso wichtig, die Studios Kabako, die er 2001 in Kinshasa gründete und 2006 nach Kisangani verlegte. Die Studios, benannt nach seinem besten Freund, der im Kongokrieg umkam, sind eine Produktions- und Ausbildungsstätte – „ein Ort des Fragens, des Suchens und manchmal des Findens“, wie Linyekula sagt. Ein Ort auch der Hoffnung und des Überlebens in diesem isolierten, kriegsversehrten Kisangani, das von der Hauptstadt aus nur per Flug (sehr teuer) oder Schiff (zwei Wochen) zu erreichen ist. Die Abgeschiedenheit macht die Arbeit umso notwendiger und die Konzentration darauf umfassend. In der internationalen Tanzszene jedoch ist der Name Kisangani mittlerweile bekannt – so wie das anonyme Wuppertal durch Pina Bausch weltberühmt wurde.
In den Studios Kabako können sich junge Künstler ausprobieren und ihre Ideen verwirklichen, aber die Studios sind auch ein Community Project. „Beide Seiten sind mir gleich wichtig“, sagt Linyekula. „Künstler sein ist doch nur eine andere Form, sich mit der Gesellschaft auseinanderzusetzen. Wir wollen der Stadt etwas geben, das über die Kunst hinausgeht, einen Ort, an dem die Stadt sich kennenlernt, sich betrachtet, einen Ort der Schönheit. Ich versuche, jedes Jahr mindestens sechs Monate vor Ort zu sein, um bei der Entwicklung der Projekte zu helfen.“ Auch seine eigenen Arbeiten entstehen dort. Als ich ihn frage, was er denn als Nächstes plane, spricht er nicht von Tanz, sondern von Trinkwasser und wie man seine Qualität verbessern kann.
Kunstvoll durchgeknallter Freiheitsrausch
Doch die Studios Kabako stehen eben auch für Probenräume, Workshops, Künstlerresidenzen, es gibt ein Tonstudio, eine Freiluftbühne, und all das wird intensiv genutzt. Die Tänzer Papy Ebotani und Dinozord sind nur zwei von vielen, die hier ausgebildet wurden, und auch der berühmte Gitarrist Flamme Kapaya gehört zur Family. Mit seinen drei Musikern verleiht er dem Bühnengewitter „more more more … future“ (2009) die flammende Rebellion und Energie, die es zu Linyekulas populärster Aufführung machen. Wo Punk eine saturierte Gesellschaft mit dem Schlachtruf „No Future“ aufmischte, fordert der kongolesische Ndombolo nicht weniger kämpferisch das Gegenteil: Eine so desolate Gesellschaft wie die seine kann gar nicht genug Zukunft beschwören. Das Stück ist ein szenischer Wutschrei mit grotesk-bombastischen Kostümen aus Ramschfetzen, peitschenden Beats und aufrührerischen Gedichten des politischen Gefangenen Antoine Vumilia Muhindo, der ein Jugendfreund Linyekulas ist. Die Tänzer (der Meister und seine beiden Schüler) toben in absurden Kugelkleidern über die Bühne wie Clowns auf Speed und Rachewolken. Und alle treiben sich gegenseitig hoch, reißen sich selbst und die Welt aus den Angeln – wer diesem kunstvoll durchgeknallten Freiheitsrausch nicht verfällt, dem ist nicht mehr zu helfen.
Ich begreife mich als Geschichtenerzähler, und da es kongolesische Geschichten sind, die ich erzähle, sind es düstere, traurige, oft verzweifelte Geschichten. Aber da darf man nicht stehen bleiben. Ich erzähle diese Geschichten ja auch, um etwas über mich selbst herauszufinden, um zu begreifen, woher ich komme und wohin ich gehen will.“ Auf der Suche nach der verlorenen Zeit ist Linyekula in das Dorf seiner Kindheit zurückgekehrt und hat seine Erfahrungen dort in seinem Solo „Le Cargo“ (2011) verarbeitet. Es ist sein erstes Solostück, und es erzählt vom Verlust der Identität, vom verstummten Trommler, der nun Priester einer evangelikalen Sekte ist, die Ahnenkult und Trommeln verdammt, vom Dorf, das nicht mehr tanzt, und von seiner Sehnsucht nach den alten Geheimnissen. Und dann beginnt er zu tanzen, für sich, für die Ahnen, für uns – und gegen das Vergessen.
In seinem Meisterwerk „Drums and Digging“ (2013) setzt er die Suche fort, aber die Geschichten wirken nun nicht mehr wie aus der Realität herausgeschnitten, sondern wie aus einem grausamen Märchen. Auch hier kehren die Akteure an die Orte ihrer Kindheit zurück; sie tun es mit Wehmut und erfüllt von einer trauernden Zärtlichkeit, die selbst den bösen König umspült. Die großartige Schauspielerin Véronique Aka Kwadeba, die als nahe Verwandte „bei Hofe“ aufwuchs, sieht ihn noch einmal mit Kinderaugen. Das macht den Diktator Mobutu Sese Seko zu einer fast schon poetischen Figur, wie er da sein Heimatdorf Gbadolite zum „Versailles des Dschungels“ ausbaut und in verquälten Träumen von Katzen und Macht seine megalomanen Bauprojekte erfindet. Faustin Linyekula, der die stummen Trommeln und verlorenen Rituale beklagt, kann das Dorf seiner Kindheit immerhin noch besuchen – ihres ist in Trümmern und vom Dschungel verschluckt.
„Drums and Digging“ ist faszinierend, obwohl (oder weil?) über weite Strecken unverständlich, da meist im Äquatorialidiom des Mobutu-Clans gesprochen wird. Aber die Atmosphäre ist so dicht, die Szenenkomposition so exquisit, die Thematik so heikel, dass einem schier der Atem stockt. Eine Ahnenbeschwörung voller Scham – „Was habt ihr getan?“ –, deren tiefere Dimensionen für Europäer vermutlich gar nicht erkennbar sind. Die Darsteller/-innen bauen im Verlauf des Abends eine riesige Holzstruktur auf, Luftschloss oder Himmelspforte, so als wollten sie unbedingt auch ein konstruktives Zeichen setzen inmitten ihres Theaters der Schmerzen.
Wer weiß, hätte man Linyekula damals in London gewähren lassen, vielleicht wäre er Theaterregisseur geworden statt Choreograf. Dass er das Zeug dazu hat, sieht man spätestens bei dieser Arbeit des Grenzgängers. Tatsächlich wurde er schon 2009 von der Comédie Française eingeladen, Jean Racines „Bérénice“ zu inszenieren. Die Erfahrung war zwiespältig. Das Stück interessierte ihn, weil es von Fremdheit und Einsamkeit handelt (Bérénice, Königin von Palästina, wird von Kaiser Titus, der sie liebt, aus Rom verbannt, der Staatsräson und ihres „orientalischen Blutes“ wegen), doch die starre Ordnung des Theaterbetriebs lähmte seine Kreativität. Aber die Figur der unerwünschten Ausländerin ließ ihn nicht mehr los. Kaum zurück in Kisangani inszenierte er seine eigene Version der klassischen Tragödie. „Pour en finir avec Béré-nice“ spielt im Kongo kurz vor der Unabhängigkeit und dreht den Spieß um: Die weißen Schüler eines Elitegymnasiums proben für eine Vorstellung der „Bérénice“ und erkennen dabei, dass sie nun Fremde sein werden in dem Land, in dem sie geboren sind.
Die Narben verratener Utopien
Linyekula hat seit den späten 1990er Jahren gut zwei Dutzend Aufführungen erarbeitet, vom frühen „Spectacularly Empty“ (2001) über das 2006 für Peter Sellars’ Wiener Mozart-Festival New Crowned Hope geschaffene „The Dialogue Series: III. Dinozord“ bis zum kleinen, feinen Solo „Statue of Loss“ (2014), einem anrührenden Totenritual für die im Ersten Weltkrieg gefallenen kongolesischen Soldaten der belgischen Armee. Er versteht es, die große Geschichte durch kleine Geschichten zu erzählen und im Alltagselend die Narben der verratenen Utopien sichtbar zu machen. Er ist der berühmteste Choreograf Afrikas und könnte sich darauf ausruhen, aber das ist nicht seine Art.
Natürlich freut ihn seine starke Position in Europa (und zunehmend auch in den USA), doch sie freut ihn vor allem als Mittel zum Zweck. Was er bei den Tourneen verdient, die Zuwendungen französischer Stiftungen oder des niederländischen Prince Claus Fund, nutzt er für seine Projekte in Afrika. „Ich würde viel lieber durch Afrika touren als durch Europa“, sagt er, „nur ist das eben viel schwieriger. Die Flüge sind teuer, und niemand hat das Geld, uns einzuladen.“ Also gibt er das Geld, das er in Europa verdient, in Afrika aus, manchmal auch für Gastspiele, vor allem aber für seine Studios Kabako, die wachsen sollen, um mehr Residenzen für junge Künstler zu ermöglichen.
Das Holzmodell, das in „Drums and Digging“ errichtet wird, stammt von der deutschen Architektin Bärbel Müller, die einen Plan für die Erweiterung der Studios entworfen hat. „Sie vergleicht Architektur mit Akupunktur“, erklärt Linyekula, „wir wollen die Nadeln im Körper unserer Stadt versenken, um sie zu heilen.“ Zwei weitere Stützpunkte an neuralgischen Stellen Kisanganis sollen entstehen mit Häusern nach dem Modell, das in der Aufführung gebaut wird. Das ist Linyekula pur – seine beiden wichtigsten Aufgaben zusammengefasst in einem Bild von großer Kraft und Schönheit –, was in der Realität noch warten muss, kann in der Kunst schon mal geträumt werden.
Faustin Linyekula ist ein wunderbarer Tänzer mit geradezu magischer Bühnenpräsenz, ein bedeutender Choreograf, der es wie kaum ein anderer versteht, Traditionelles, Zeitgenössisches und Spirituelles ganz unangestrengt miteinander zu verbinden. Er ist aber auch ein engagierter Pädagoge, ein Denker, ein Inspirator und Wegbereiter, jemand, der seine Privilegien nutzt, um anderen zu helfen. Und er ist nicht zuletzt ein angenehmer, kluger, polyglotter Zeitgenosse, der viele Sprachen spricht und dazu noch blendend aussieht. Er ist mit der Französin Virginie Dupray verheiratet, die sich ums Organisatorische kümmert (was in Afrika eine Herkulesaufgabe sein kann). Sie haben zwei Söhne, sieben und elf Jahre alt, und bei ausgedehnten Tourneen durch Europa kommt die Familie mit. Zwischen den einzelnen Stationen ziehen sie sich in ihre Pariser Wohnung zurück. Das ist alles perfekt organisiert, einschließlich des Privatunterrichts für die Kinder, trotzdem wünscht er sich für die Zukunft weniger Gastspiele in Europa. Und er denkt darüber nach, Filme zu machen – die reisen leichter. „Ich will die Bewegung, die sich New Nollywood nennt, studieren und in Lagos lernen, wie man Filme macht. Mit der neuen Technik, da bin ich sicher, kann man für 50 000 Euro einen guten Film machen.“ Das will er ausprobieren. Und er will neue Geschichten erzählen, nicht immer nur von Kummer und Leid. Das hat er sogar auf der Bühne verkündet, in „Drums and Digging“, vielleicht sein letztes großes Bühnenwerk. Es wäre schade, aber konsequent, und er ist euphorisch und zweifelnd zugleich über den geplanten Aufbruch.
Gern zitiert Faustin Linyekula auch den italienischen Sozialisten Antonio Gramsci: Es kommt in jeder Situation darauf an, den Pessimismus der Intelligenz mit dem Optimismus der Willenskraft zu verbinden. //