Auftritt
Residenztheater München: Der Theater-TÜV
„77 Versuche, die Welt zu verstehen“ Texte von Hong-Do Lee und Ensemble – Stückentwicklung und Regie Kyung-Sung Lee, Bühne Franziska Huber, Kostüme Gloria Brillowska, Musik Kayip
Assoziationen: Bayern Theaterkritiken Bertolt Brecht Residenztheater

Die Bühne (Franziska Huber) gleicht einem Theaterexperimentallabor. Links ein Arbeitstisch mit Schreibtischlampe und Kofferradio; rechts ein Greenscreen samt Kamera; und mittig eine Leinwand. Auf deren leicht verknitterte Oberfläche werden eingangs Fotos projiziert, die Beobachtungen und Zufallsfunde der vier beteiligen Schauspieler:innen (Felicia Chin-Malenski, Thomas Hauser, Florian Jahr, Katja Jung) von deren Weg ins Theater zeigen: eine verlorene Kindermütze, die aufs Pflaster gesprayten Buchstaben „AfD“, Tauben und einiges mehr. Dazu aus dem Off kurze Kommentare des Ensembles. Es sind Alltags-Schnipsel, Wirklichkeitspartikel, die so in den Münchner Marstall getragen werden – ein Theater mit Werkstattcharakter, das die Darstellenden, nachdem sie es betreten haben (allesamt in violetten Anzügen, teils mit Mao-Krägen – Kostüme Gloria Brillowska), mit Blicken abscannend beschreiben: hohe Betondecke, Ziegelsteinwände, verkratzter schwarzer Boden. Soweit also der reale Raum, der sich im Theater aber kraft der Behauptung in sämtliche Orte der Welt verwandeln kann.
Das ist denn auch der Versuchsgegenstand dieser Stückentwicklung von Kyung-Sung Lee: das Theater selbst und das, was es (heute noch) über die Welt zu erzählen vermag; ja und ob es diese Wirklichkeit womöglich sogar verändern kann. Dazu zieht der südkoreanische Theatermacher Bertolt Brecht zu Rate. Genauer gesagt dessen „Kleines Organon für das Theater“ von 1948 – eine Art Gebrauchsanweisung, in der der Dramatiker in 77 Abschnitten erläuterte, wie der Welt mit den Mitteln der Bühnenkunst beizukommen sei und wie selbige dafür beschaffen sein sollte. Zitat BB, Absatz 73 des Organons: „Wenn die Kunst das Leben abspiegelt, tut sie es mit besonderen Spiegeln.“
Aber: „Ist das Theater noch der richtige Spiegel? Ist es noch die richtige Antwort auf das Chaos der Welt?“, stellt Schauspieler Florian Jahr geradeheraus die Relevanzfrage. Das schraubt die Erwartungen an diesen 75 Minuten kurzen Theaterabend freilich verdammt hoch, wird dadurch doch alles Weitere zu einer Art Theater-TÜV; zur Beweisführung, an deren Ende sich doch hoffentlich die Tauglichkeit des Theaters als Werkzeug zur Welterklärung und -verbesserung unwiderlegbar zeigt. Quod erat demonstrandum. Anderenfalls könnte man den Laden ja gleich dicht machen.
Angesichts dieses Drucks schadet es nicht, nochmal gezielt bei Großmeister Brecht nachzuhaken, wie er die Rede von der „Bühne als mächtigem Werkzeug“ denn gemeint hat. Dazu wird ein Brecht-Bot konsultiert, der mit schnarrender Dichterstimme aus dem Radioapparat antwortet. Eine wichtige Antwort, die dieser KI-Bert dabei ausspuckt: Theater zu machen, das sei auch ein Weg, „den Zorn nicht über sich siegen zu lassen“. Mit anderen Worten: Theater, ist eine Möglichkeit, tätig zu werden, statt in ohnmächtiger Wut zu verharren. So beginnt die Veränderung beim Einzelnen.
Das nimmt den Erwartungsdruck dann doch gehörig raus, zumal „77 Versuche, die Welt zu verstehen“ damit nicht mehr unter der Bürde ächzt, eine Universalformel als Antwort auf die multiplen Krisen unserer Welt liefern zu müssen. Es reicht, erstmal klein anzufangen. Wenn Kyung-Sung Lee und sein Ensemble sich an diesem Abend trotzdem auf die Suche nach einer Art Theorie von allem machen, dann eher nach dem Pars-pro-toto-Prinzip. Das Theater ist hier nicht Spiegel der Welt, eher ein Kaleidoskop. Kein Abbild und Gegenentwurf, sondern ein Mosaik aus Splittern mit etlichen Leerstellen dazwischen, die man zuschauend im Kopf selbst ergänzen muss. Und so reihen sich hier in mehr oder minder loser Folge Szenen aneinander wie in Brechts Organon die Paragrafen. Da werden Werbeanzeigen nachgespielt, wie man sie auf YouTube ertragen muss, ehe man endlich auf „Skip“ klicken kann, um endlich das Video des eigentlichen Erkenntnisinteresses anschauen zu können. Katja Jung verliest vor dem Greenscreen eine Rede des südkoreanischen Ex-Präsidenten Yoon Suk-yeol, der mittels Ausrufung des Kriegsrechts die Demokratie seines Landes aushebeln wollte. Mittels Videokamera wird die Politiker-Ansprache auf die Leinwand in der Mitte übertragen, wo statt dem grünen Hintergrund hinter Jung dann eine Südkoreaflagge zu sehen ist. Felicia Chin-Malenski hadert in einem Monolog mit der Allmacht der Algorithmen und Oligarchen sowie der Unendlichkeit des Universums.
Das alles ist mal witzig satirisch zugespitzt, mal tiefgründig, manches läppisch, anderes eindringlich, mitunter sprunghaft montiert und birgt die Gefahr der Beliebigkeit. Aber wenn Thomas Hauser seine Erinnerung an den Abend des rassistischen Anschlags im Münchner Olympia Einkaufszentrums 2016 teilt, an dem er eine Theatervorstellung spielte, und wenn er dabei von der Intensität dieser Aufführung berichtet, bei der Ensemble und Publikum, wissend um den Anschlag, eine Art Schicksalsgemeinschaft bildeten, während draußen womöglich ein Amokläufer noch immer frei in der Stadt umherlief – dann vermittelt das eine Ahnung davon, was für eine existentielle Erfahrung Theater sein kann.
Beweis ist das freilich keiner. Aber im Theater geht es ja eh nie darum, letztgültige Antworten zu finden, sondern die richtigen Fragen zu stellen. Das gelingt Kyung-Sing Lees Inszenierung nicht durchgängig. Aber der Abend bietet genug, was in den Köpfen der Zuschauer:innen weiterarbeiten kann. Die Versuche, die Welt zu verstehen kennen ohnehin kein Ende. Das Theater erweist sich hier als starker Antrieb dabei.
Erschienen am 17.4.2025