Magazin
Unsere Unruhe, unsere Opposition
Zum Tod des großen polnischen Filmund Theaterregisseurs Andrzej Wajda
von Jan Klata
Erschienen in: Theater der Zeit: Wie es euch gefällt – Christian Friedel vertont Shakespeare (12/2016)
Assoziationen: Akteure Dossier: Bühne & Film
Pelagia: Man wirft unserer Generation vor, wir sehen und akzeptieren nur uns selbst. Vielleicht, aber wie sollte es auch anders sein, wenn wir, die Jungen, die einzigen sind, die keine Illusionen haben. Und uns klar ist, dass wir von der Welt, in der wir uns herumtreiben, nichts wissen. Daher unsere Unruhe, unsere Opposition gegen die stabilisierten Normen des Lebens.
Bazyli: Was studierst du?
Dialog aus Andrzej Wajdas Film „Die unschuldigen Zauberer“ (Niewinni czarodzieje), 1960.
Andrzej Wajda wurde vor 90 Jahren geboren. Drei Jahre nach dem Ende der Hyperinflation in Deutschland, in dem Jahr, in dem Gustav Stresemann den Friedensnobelpreis erhielt, in dem Jahr, in dem Marschall Józef Piłsudski putschte. Andrzej Wajda starb in diesem Jahr, am 4. November 2016, in dem Jahr, in dem Donald Trump zum Präsidenten der USA gewählt wurde. Neun Jahrzehnte eines Methusalems.
Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, eben erst ins Erwachsenenalter gekommen, drehte er sehr schnell große Filme und betrat voller Ungestüm die Theaterbühne. Ein Glückskind, im ständigen Contredanse mit den kommunistischen Machthabern, hin- und hergeworfen zwischen der Zensur und dem großzügigen Mäzenatentum des sozialistischen Vaterlandes: Er verhandelte über Drehbücher, Themen, den Schluss eines Filmes, geschickt erweiterte er die Grenzen der Freiheit, war „Solidarnosc“-Sympathisant, Mitbegründer der Tageszeitung Gazeta Wyborcza – einer der einflussreichsten Polen der letzten Jahrzehnte.
Pelagia: Ein vernünftiger Mensch weiß, dass das ganze Leben auf einem Spiel beruht. Und dass man gleichzeitig auf verschiedene Zahlen setzen muss, denn so ist die Unsicherheit am geringsten.
Bazyli: Die einen setzen auf verschiedene Zahlen, die anderen immer auf die gleiche.
Hauptgrund für Wajdas Erfolg war seine außergewöhnliche Fähigkeit, passende Mitarbeiter auszuwählen. Das gilt nicht nur für die jungen Roman Polanski und Andrzej Zuławski, sondern vor allem für die Schauspieler. Er hatte eine Art sechsten Sinn für Talent undkreative Konstellationen. Der Rest schien wie von selbst zu geschehen – was natürlich nicht stimmte.
Wajda war ein leidenschaftlicher Theaterregisseur, der viel inszenierte, ohne vor Experimenten zurückzuschrecken (ein Beispiel ist das achtstündige Schauspiel „Im Laufe der Jahre, im Laufe der Tage“ [Z biegiem lat, z biegiem dni]). Er besetzte klassische Rollen mit Rockmusikern, tauschte das Geschlecht, begann die Proben ohne Textbuch, ließ sich vom japanischen Bunraku-Theater inspirieren, probte vor Publikum unter freiem Himmel, experimentierte. Er hatte keine Angst zu scheitern, weshalb er meistens gewann.
An „Hamlet“ versuchte er sich viermal (dreimal im Stary Teatr in Krakau), mit der „Sache Danton“ setzte er sich dreimal auseinander (einmal filmisch). Ihn faszinierte Dostojewski, der ihn zu den großen Krakauer Inszenierungen – „Die Dämonen“, „Nastassja Filippowna“ und „Schuld und Sühne“ – inspirierte. Er ging stets von der visuellen Seite des Schauspiels aus, das mit der Gegenwart eines Konzepts einen Dialog führte. In den siebziger Jahren übertrug er die filmische Schauspielkunst auf die Theaterbühne. Mit Wajda zu arbeiten, kam einer Nobilitation gleich und war für die Schauspieler zugleich mit enormem Stress verbunden, da sie der überaus anspruchsvollen Aufgabe, „die Figur von innen auszufüllen“, gerecht werden mussten. Er nahm die Schauspieler nicht an die Hand, deshalb war für ihn auch die richtige Besetzung so wichtig.
Er spielte mit der Obrigkeit, hatte ein ausgezeichnetes Gespür für kollektive Emotionen, vermochte diese in einer mitreißenden Form zum Ausdruck zu bringen, die zugleich avantgardistisch und allgemeinverständlich war. Nach 1989, als sich sein Lebenstraum von einem vollständig unabhängigen Polen erfüllte, verlor Wajda seinen inneren Kompass, so als hätte er mit seiner Kunst für die Freiheit bezahlt. Das heißt aber nicht, dass er sich der Wirklichkeit verschloss – er war weiterhin hungrig nach neuen Erfahrungen, versuchte die sich rasant verändernde Welt zu verstehen.
Ich erinnere mich, wie wir dem 70-jährigen Wajda Gangsta-Rap zeigten, er sah sich die Videoclips aufmerksam an und sagte anschließend einen einzigen Satz: „Sie sind angezogen, als würden sie in den Krieg ziehen.“
Sein letztes Theaterstück inszenierte er 2004 („Macbeth“ im Stary Teatr Krakau), bis zum Schluss machte er Filme (die Premiere seines Films „Nachbilder“ [Powidoki] steht noch aus). Im letzten Interview, gefragt, was er heute inszenieren würde, antwortete er: „Es fällt mir schwer, die Entscheidungen der Gesellschaft nachzuvollziehen.“ Recht hatte er.
PS: 4. November 2016. Resolution des Sejms der Republik Polen zum Gedenken an Andrzej Wajda. Die Resolution wurde von den Abgeordneten einstimmig, stehend, per Akklamation angenommen. Von allen … mit Ausnahme von Jarosław Kaczynski, der den Saal unmittelbar davor verlassen hatte. Eine Minute später kehrte er zurück, zur nächsten Abstimmung. //
Aus dem Polnischen von Andreas Volk.