Protagonisten
Erzähltheater als Eigentherapie
Georg Genoux setzt am Thespis Zentrum Bautzen und beim bevorstehenden Festival „Willkommen anderswo“ neue Akzente
von Michael Bartsch
Erschienen in: Theater der Zeit: Der Untergang des russischen Theaters (10/2022)
Assoziationen: Akteure Sachsen Georg Genoux Deutsch-Sorbisches Volkstheater Bautzen
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Wenn am 19. Oktober in Bautzen wieder das Festival internationaler Begegnungen „Willkommen anderswo“ startet, wird es eine neue Handschrift tragen. Verantwortlich ist eine „Filiale“ des Deutsch-Sorbischen Volkstheaters, das Thespis Zentrum, durchaus als Bautzener Bürgerbühne zu bezeichnen. Es wurde 2018 auch als Antwort auf fremdenfeindliche Aktionen in einer besonders heterogenen Stadt gegründet. Seit Mai leitet Georg Genoux das Zentrum, ein Mann mit einer ungewöhnlichen deutsch-slawischen Biografie, mit mindestens zwei Identitäten und ein Exponent des biografischen und Erzähltheaters.
In den Künsten sind nicht immer die Unbedingten äußerlich am erfolgreichsten, jene, die konsequent tun, was sie tun müssen. Seit Georg Genoux vor vier Jahren auch in Sachsen auftauchte, haben ihn nur Theater-Insider wahrgenommen. Er bietet nun einmal weder skandalgeilen Kritikern noch Freunden des hausbackenen Unterhaltungstheaters Einstiegspunkte. Mit der Übernahme von „Thespis“, das sich selbst als soziotheatrales Zentrum bezeichnet, ist er deutlicher aus der Nische hervorgetreten. Er kann für diese dialogisch angelegte Einrichtung als Idealbesetzung angesehen werden.
Geboren wurde Genoux 1976 in Hamburg, aber den größeren Teil seines Lebens für Theater und Film hat er in Moskau, Kiew und Sofia verbracht. Den Eindruck, seine körperliche Erscheinung habe auch etwas Russisches, bestätigt er verschmitzt lächelnd. Stattliche Gestalt, volles Gesicht, rötlicher Teint, eine wallende Mähne. Erst 2018 entdeckte er Ostdeutschland, den Osten des Ostens, konkret die sächsische Oberlausitz. Anfang 2022 wollte er eigentlich für vier Jahre zurück nach Moskau ans Meyerhold-Zentrum gehen. Mit Kriegsausbruch aber bot ihm Theaterintendant Lutz Hillmann die Leitung von „Thespis“ an.
Nach jahrelangen Kämpfen und geduldiger Werbung für seine Ideen fühlt sich Georg Genoux sowohl in Bautzen als auch in der Institution „Thespis“ angekommen. Mit Tanztheater begannen im Juni die ersten Aufführungen. Im Juli folgte eine weitere Premiere in den Räumen des unweit vom Volkstheater gelegenen Zentrums. Deren Titel „Wir schaffen das“ spielte natürlich auf die legendäre Äußerung der damaligen Kanzlerin Angela Merkel auf dem Höhepunkt des Flüchtlingszustroms 2015 an. Zwei Ukrainerinnen, eine deutsche Pädagogin und ein arabischer Flüchtling sprechen über sich. Ein „geprobtes Gespräch mit Elementen des Puppentheaters“ nennt Genoux die Runde im Zimmertheaterformat. Der mit einfachsten Mitteln inszenierte Austausch beim Kaffeetrinken benutzt passendes Geschirr verschiedenster Herkunft.
Dieses authentische Theater, die Selbstheilung durch Selbstentäußerung, hat Genoux auf seinem Weg als das adäquate persönliche Betätigungsfeld gefunden. Selbstverständlich schätze er hohe Schauspielkunst und klassische Dramatik, sagt er. Aber seiner erkannten spezifischen Leidenschaft im Genre müsse er folgen. „Mich bewegt 24 Stunden am Tag das Interesse, mit Menschen über ihr Leben zu sprechen und wie sie es meistern.“ In der szenischen Umsetzung entdeckten sie etwas für ihr Leben und die Zuschauer eigene Anknüpfungspunkte. In „Wir schaffen das“ schwingt die Bewunderung für Opfer des Überfalls auf die Ukraine mit, die an ihrem Schicksal nicht zerbrochen sind. „Ich bin nicht mehr das Opfer meiner Geschichte, sondern ihr Held!“ – dieses Zitat eines an einem früheren Projekt beteiligten Schülers begleitet jede seiner Konzeptionsproben.
Wie man diese Arbeit bezeichnet, ist zweitrangig. Partizipatives oder interaktives Theater oder eben die „Bürgerbühne für alle Bürger dieser Erde“, wie er zu „Thespis“ sagt. Diese verschiedenartigen Bürger müssen einander nicht immer spontan mögen. Für Fremdenangst als menschlichem Grundzug entwickelt der hochempathische Georg Genoux sogar ein gewisses Verständnis.
Seinen Weg und seinen Stil hat er im Osten Europas, später auch im Osten Deutschlands gefunden. Die Prägung durch slawophile Großeltern mag dabei ebenso eine Rolle gespielt haben wie ein Fremdeln mit dem „von Markenschuhen geprägten Westen“. „Ich habe mich in Hamburg nie zu Hause gefühlt!“ Schüleraustausch und Zivildienst in Moskau, zufällig mit Beginn der Putin-Ära 1999 dort Regiestudium, Theatergründungen wie das Joseph Beuys Theater in Russland und in der Ukraine. 2018 Entdeckung der Transformations- und Deformationsgesellschaft in der Lausitz. Er und seine an vielen Projekten mitbeteiligte Frau Anastasia Tarkhanova hätten sich „ein bisschen in die Sachsen verliebt“, sie aber „immer noch nicht ganz verstanden“.
Jedenfalls empört es ihn, wenn ihn jemand wegen seiner Arbeit in „Dunkeldeutschland“ anflachst. Auch die 1989 geborene Steffi Seurich, bislang schon an Genoux-Projekten beteiligt und bald Mitarbeiterin von „Thespis“, findet, dass solche Klischees daran hindern, Ressentiments der Einwohner hier auf den Grund zu gehen.
Genoux’ Einsatz in Bautzen für zunächst drei Jahre hatte einen Vorlauf, für den vor allem Intendant Hillmann sorgte. Unter anderem liefen schon im Januar drei Theaterfilme mit dem Titel „HeimaTraum“. Künftig wird eine Performance der erst 23-jährigen aus dem Donbass geflohenen Regisseurin Alina Kobernik Bestandteil der Aufführungen sein. Zu einer beeindruckenden Fotoausstellung ihrer neuen Lausitzer Heimat hatte sie vom Publikum symbolisch ein Netz ihrer Ängste und Depressionen zerschneiden lassen. Im Sommer haben bei „Thespis“ neben der Vorbereitung des Festivals Mütter und Kinder, die den Krieg gegen die Ukraine erlebt haben, eine Ausstellung konzipiert.
Das Wortspiel „HeimaTraum“ steht auch über dem „Willkommen anderswo“-Festival. Kriegserlebnisse und Fluchterfahrungen nicht nur aus der Ukraine dominieren. In interaktiven Aufführungen und im Rahmenprogramm sollen aber auch die erstmals seit 1945 wieder mittelbar von einem Krieg betroffenen Deutschen ihre mentalen Veränderungen reflektieren. Möglichst vielseitig habe man „Ausdrucksmittel für das Kriegsgeschehen gesucht“. Das kulturelle Selbstentdeckungsprojekt „X-Dörfer“ der ehemaligen Dresdner Bürgerbühnenleiterin Miriam Tscholl passt dazu. Gäste kommen vom Deutschen Theater Berlin, von den Kammerspielen und dem Residenztheater aus München. Georg Genoux und seine Frau Nastja werden zum Festival ein Buch entwickeln, „das ebenso wichtig ist wie das Bühnenprogramm“. //