Uckermärkische Bühnen Schwedt: Im großen Bogen der Geschichte
„Verschwinden“ von Elise Wilk (DSE) – Regie Vlad Massaci, Ausstattung / Video / Sounddesign Andu Dumitrescu
von Thomas Irmer
Assoziationen: Brandenburg Theaterkritiken Vlad Massaci Elise Wilk Uckermärkische Bühnen Schwedt

Elise Wilk ist eine in Rumänien viel gespielte Theaterautorin mit auch schon internationaler Beachtung. Ihr 2019 in ungarischer Sprache in Targu Mures uraufgeführtes Stück „Verschwinden“ erzählt vom Schicksal der deutschen Minderheit in Rumänien, die seit dem Zweiten Weltkrieg von einer großen Minderheit zu einer verschwindend kleinen Bevölkerungsgruppe mit heute gerade mal 23000 Angehörigen wurde. Verfolgung, Auswanderung und der damit über Generationen einhergehende Familienzerfall sind also das Thema, hinter dem die Kräfte der großen Geschichte stecken – und fürs Theater natürlich die Geschichten einzelner Figuren in ihrem fragilen Beziehungsnetz zwischen Gehen und Bleiben. Das Thema der deutschen Minderheit in Rumänien ist durchaus virulent für heute – siehe Thomas Perles gleichfalls mehrere Generationen umfassendes Stück „karpatenflecken“ (TdZ 6/22).
Wilks Stück bewegt sich nacheinander auf drei Zeitebenen – 1989/1944/2006 – und die darin agierenden Erzählerfiguren der jeweiligen Handlung sind entweder schon tot oder noch gar nicht geboren. Am stärksten wirkt dieser besondere Einfall im ersten Teil mit Max, der als nach Kriegsende in die Sowjetunion verschleppter und von dort nie zurückgekehrter Zwangsarbeiter die Familiengeschichte seiner Geliebten Kathi um 1989 erzählt, die er einst zu dem Rumänen Paul in die Ehe geschickt hat, um sie vor der Deportation aller Deutschen zu bewahren – was dann erst im zweiten Teil des Stücks erzählt wird. So entsteht ein Gewebe, das über die standardrealistische Familiensaga hinausgeht und die Toten sogar mit Zukünftigen verbindet, wenn es dabei um das Verlorene eines Gemeinsamen geht.
Der rumänische Regisseur Vlad Massaci, den der Schwedter Schauspieldirektor Thilo Esche zu dieser Arbeit einlud, hat mit dem sechsköpfigen Ensemble vor allem die Unterschiede in den Lebenswelten und -wünschen der verschiedenen Generationen herausgearbeitet. Andu Dumitrescu sorgt mit Koffern, die den Namen der jeweiligen Figur tragen und somit für die Abreise dastehen, in den Zeitsprüngen der Familienkonstellation für Klarheit. Die Koffer werden auch zu Stuhl und Tisch zusammengestellt, und selbst ein Familientreffen hat so noch etwas Flüchtiges. Auf die Rückwand, die kleine Kabinen für die gerade nicht beteiligten Figuren bereithält, werden die fast erwartbaren Bilder von Stalin, Ceaucescu, Putin projiziert, sie ruckeln allerdings ab und zu, als ob der Film stehen geblieben ist, während davor alles weiter geht, was mit der Kriegsgeneration einmal alles angefangen hatte. Weitaus emotionaler, denn so auch bekannter, wirken Szenen, in denen die in den Westen gegangenen, stets mit Projektionen der Daheimgebliebenen besetzten Bewunderten entzaubert werden. Sie hatten den Duft der freien Welt mit billigen Aldi-Artikeln geschickt und sich auch ein bisschen erfolgreicher als in Wirklichkeit zuhause dargestellt – was die Verwandten später entdeckten. Projektionen beiderseits.
Gerade damit kommt Wilks Stück in Schwedt in der Inszenierung über die spezifisch rumäniendeutsche Erfahrung hinaus und in die kriegsbedingte Verschiebung ganzer
Bevölkerungsgruppen hinein (deshalb zugleich auf Polnisch angeboten). Ines Venus Heinrich gibt der durch verschiedene Zeiten springenden Kathi als zentrale Figur eine Kraft, die auch die anderen in wechselnden Figuren immer wieder zu ihr finden lässt: insbesondere mit Bernhard Schnepf als Paul, während Udo Schneider den nie zurückgekommenen Max in seiner Gefangenenjacke mit einer fragenden Haltung in diese Geschichte hinein spielt. Im schuldlosen Urunglück eines Jahrhundertstücks.
Das Stück hat auch Witz – mit Witzen über die Ceaucescu-Zeit – und schwarzen Humor, den die Schauspieler vermitteln, selbst wenn die Inszenierung kaum verhehlen kann, dass die großen Tragödien der Jahrhundertmitte fünfzig Jahre später eher zu Banalitäten der Konsumgesellschaft mit Haribo-Gummibärchen geworden sind, wenn sie das Ende einer großen Kulturgeschichte von Deutschen in Rumänien betreffen. Die jüngste Generation guckt beim Familientreffen permanent ins Handy und ist sowieso woanders. Und doch betroffen.
Erschienen am 8.3.2023