Magazin
Modell der Zukunft oder nur Versuch?
Ein Materialbuch dokumentiert Volker Löschs Dresdner Bürgerchortheater
von Tom Mustroph
Erschienen in: Theater der Zeit: Radikal anders – Kulturhauptstadt Chemnitz (12/2024)
Assoziationen: Buchrezensionen Volker Lösch
Stefan Schnabel lässt in „Volkstheater der Zukunft: Die Gruppe Volker Lösch und der Dresdner Bürgerchor“ die Praxis des Bürgerchors Revue passieren. Theater möge die Welt verändern, ist die Hoffnung immer neuer Generationen von Theatermacher:innen. Die Gruppe um den Regisseur Volker Lösch, die 2003 den Dresdner Bürgerchor aus der Taufe hob, kann zumindest für sich in Anspruch nehmen, Theater neu akzentuiert, Skandale ausgelöst und Bewusstseinsprozesse bei den Beteiligten in Gang gesetzt zu haben. Stefan Schnabel, als Dramaturg an vielen Bürgerchorinszenierungen – nicht nur in Dresden – beteiligt, gibt in „Volkstheater der Zukunft“ Einblicke in die Produktionsweise dieses Großkollektivs mithilfe von Essays, Stücktexten und Kritiken.
Stark wird das Buch, wenn die Protagonist:innen zu Wort kommen. Als die 33 Chormitglieder im Kontext der ersten Produktion „Orestie“ (2003) nach ihrer Vorstellung von Demokratie befragt wurden, ist das Panorama der Antworten enorm. Demokratie sei „nur ein Wort, eine nette Idee, nur leider nicht realisierbar“. Andere feiern sie als „Maximum an persönlicher Freiheit“, auch das Mehr an Freiheitsgraden gegenüber der DDR-Gesellschaft wird betont. Wieder andere sehen in Demokratie nur eine „freundliche Benutzeroberfläche für das Kapital“.
Schon damals konnte man also eine fundamentale Desillusionierung bemerken. Rauer wurde der Ton bei der Folgeinszenierung „Die Weber“ (2004). Auch die Fragen an den Chor waren nun rauer. Der Konkurrenzkampf um einen Arbeitsplatz wurde befeuert, nach der Angst, ihn zu verlieren, und nach den Schuldigen an der Misere gefragt. Der Wille zur Anpassung an den Job, der sich in den Antworten widerspiegelte, die in den Text der Inszenierung einflossen, war enorm. Wie auch die Wut über erlittene Demütigungen, nicht als schlesische Weber im Stück von Gerhart Hauptmann, sondern als Dresdner Studenten, Angestellte, Hausfrauen und Arbeitslose. Sie äußerte sich in Fantasien wie „einfach die formulare den leuten in den rachen stopfen“, „böse mit meiner pistole rumfuchteln“, „das arbeitsamt in hellen flammen“ aufgehen sehen und eben auch die damalige Talkshow-Queen Sabine Christiansen erschießen. Diese Mordfantasie, geäußert vom Chor der Weber, gab den Anlass für ein Aufführungsverbot. Schnabel schildert im Buch die Umstände, lässt durch den Reprint damals veröffentlichter Texte das Für und Wider im Raume stehen. Was einigen Verbotsbefürwortern seinerzeit offenbar entging, war der Prozess der künstlerischen Umformung. Es handelte sich selbstverständlich nicht um einen plumpen Mordaufruf. Die Gedanken der Einzelnen wurden zu einer Art „reimlosen Lyrik“ verschmolzen, wie Günther Heeg in seinem einleitenden Text im Buch betont. Es war eine Lyrik, die Dissonanzen herausstellt, die Gewalt der gesellschaftlichen Zustände und Formen der Reaktionen darauf sichtbar macht.
Die Frage liegt nahe: Hätte die Inszenierung, statt sie zu verbieten, ernster genommen werden müssen? Hätte die Wut, die da zum Ausdruck kam, und die sich inzwischen leicht als Triebkraft für die steigenden Zustimmungswerte für die AfD interpretieren lässt, nicht lieber als Anlass für verändertes politisches Handeln genommen werden sollen? Der Titel „Volkstheater der Zukunft“ legt ein Ja nahe. Auch Heeg feiert die Bürgerchor-Praxis als „Motor und Werkzeug der Selbstaufklärung des Publikums und Anstifter für politische Auseinandersetzungen“.
Regisseur Lösch wirkt da skeptischer, bilanziert, „politisch wirkungslos“ geblieben zu sein: „Wir haben es nicht geschafft, das Klima in Dresden entscheidend zu verändern.“
Dass Schnabel diese ernüchternde Bilanz im Buch unterbringt, spricht für die Ernsthaftigkeit des Unterfangens sowohl auf der Bühne wie auf dem Papier. Verblüffend ist allerdings, dass der Frageradar des künstlerischen Teams der vorgestellten Produktionen vor allem auf das Ausforschen der negativen Energien von Ausgegrenzt- und Gedemütigtsein, von Enttäuschungen und Wutfantasien gerichtet ist und so gar keinen Sinn für die zwar kurzen, aber auch in Dresden befreienden Momente von 1989 und 1990 zu haben scheint. Der Reformflügel des SED saß mit Modrow und Berghofer schließlich in Dresden. Und die Gruppe der 20, die sich im Oktober 1989 aus den Demonstrationen herausgebildet hatte, war im Grunde genommen die Version 1.0 eines Bürgerchors.
Stefan Schnabel: Volkstheater der Zukunft: Die Gruppe Volker Lösch und der Dresdner Bürgerchor. Verlag Vorwerk 8, Berlin 2024, 288 S., Gebundene Ausgabe € 24