Theater der Zeit

Auftritt

Deutsches Theater Göttingen: Stummfilm auf Speed

„Die Wildente“ (DSE) von Simon Stone nach Henrik Ibsen – Regie Schirin Khodadadian, Bühne Michael Lindner, Video Jonas Dahl

von Joachim F. Tornau

Assoziationen: Hessen Theaterkritiken Schirin Khodadadian Simon Stone Deutsches Theater Göttingen

Lou von Gündell, Rebecca Klingenberg und Gerd Zinck in „Die Wildente“ in der Regie von Shirin Khodadadian am Deutschen Theater Göttingen. Foto Thomas Müller
Lou von Gündell, Rebecca Klingenberg und Gerd Zinck in „Die Wildente“ in der Regie von Shirin Khodadadian am Deutschen Theater GöttingenFoto: Thomas Müller

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Würde man eine künstliche Intelligenz bitten, eine Metazusammenfassung von Netflix-Serien zu liefern, sie könnte so etwas antworten: Jemand kommt von außen in ein Dorf/eine Familie/eine Gemeinschaft, bringt langgehütete dunkle Geheimnisse ans Licht, und am Ende ist nichts mehr so, wie es vorher war. Was heute als Streamingstrickmuster zu Tode variiert wird, hat der norwegische Dramatiker Henrik Ibsen schon vor fast anderthalb Jahrhunderten in seinem Fünfakter „Die Wildente“ zur Meisterschaft gebracht. Und spätestens die Neufassung durch den australischen Regisseur Simon Stone bewies, dass die Erzählung von der Fragilität eines auf Lebenslügen aufgebauten Glücks und der zerstörerischen Macht der Wahrheit auch im 21. Jahrhundert nichts von ihrer Kraft verloren hat.

Bereits 2011 brachte Stone in Sydney seine radikal modernisierte und beschleunigte, doch im Kern unveränderte „Wildente“ auf die Bühne. Vier Jahre später folgte eine Filmfassung unter dem Titel „The daughter“. Bis zur deutschsprachigen Erstaufführung dauerte es indes: bis jetzt. Am Deutschen Theater in Göttingen hat Ko-Chefin Schirin Khodadadian die Stone’sche Bearbeitung des Ibsen-Klassikers im Großen Haus inszeniert, mit viel Wucht, einer gefangen nehmenden Bildsprache und einem starken Ensemble.

Gabriel von Berlepsch ist Gregers Werle, der Sohn des Dorfpatriarchen und Sägewerksbesitzers, der nach dem Suizid seiner Mutter gegangen ist und jetzt zurückkehrt, weil sein Vater (als alterndes Alphamännchen: Florian Eppinger) erneut heiraten will. Kein moralisierender Wahrheitsfanatiker wie bei Ibsen ist dieser Gregers, eher ein Zyniker, arrogant, überheblich. Doch man spürt, dass unter der scheinbar glatten Oberfläche etwas brodelt. Verachtung für den Vater, aber auch Verzweiflung wegen des eigenen ausbleibenden Lebensglücks. Als Gregers herausbekommt, dass Hedvig, die Tochter seines Jugendfreunds Hjalmar, in Wahrheit die Tochter seines Vaters ist, zögert er keine Sekunde: Die Lebenslüge soll zerplatzen. Man weiß, wie das endet. Was vorgeblich alles besser machen soll, mündet in die Katastrophe, für alle.

Bastian Dulisch zeigt den betrogenen Familienvater Hjalmar als irgendwie zu groß geratenen Jungen, der, eigentlich die Freundlichkeit in Person, den vor Wut tobenden Mann eher zu spielen scheint als es wirklich zu sein. Hedvig (Lou von Gündell) dagegen, die 15-Jährige, wirkt so, als sei allein sie hier die Erwachsene, abgeklärt, und klarsichtig. Als „Turbo-Ibsen“ ist Stones Bearbeitung bezeichnet worden, mit kurzen Szenen, denen minutengenaue Uhrzeiten voranstehen, und rasanten Dialogen. Khodadadian lässt es etwas langsamer angehen, gibt dem Kammerspiel mehr Zeit. Stone ließ den letzten Vorhang schon nach 75 Minuten fallen, in Göttingen dauert es eine halbe Stunde länger. Aber behäbig gerät die Inszenierung damit ganz und gar nicht.

Michael Lindner hat für die Bühne einen schwarzen Rahmenbau geschaffen. Weiße luftige Vorhänge hängen darin, sie dienen als einzige Requisite ebenso wie als Projektionsfläche für Videos (Jonas Dahl), die das Bühnengeschehen in den Wald verlegen und vervielfachen. Aus dem Rahmen werden gleich zu Beginn mit viel Krach Bretter herausgebrochen und herumgeworfen, man kann das als wenig subtile Metapher für das zerstörerische Werk der Wahrheit verstehen, aber auch als das rücksichtslose Bäumefällen, mit dem der alte Sägewerksbesitzer Werle seine Macht und seinen Reichtum aufgebaut hat.

„Warum können wir nicht so tun als ob?“, fragt Hedvig, als Hjalmar nach der enthüllten Wahrheit nicht mehr ihr Vater sein will. Hjalmar findet: völlig undenkbar. Dabei klappt es mit dem so tun, als wäre nichts, in anderer Hinsicht problemlos. Die vielleicht größte Lebenslüge unserer Zeit, dass wir trotz Klimawandels und der Vernichtung der menschlichen Lebensgrundlagen einfach weitermachen können wie bisher – sie ist, obwohl von Hedvig mit ökologischen Horrornachrichten aufs Tapet gebracht, von der Pflicht zur Wahrheit ausgenommen. Auch diese Dimension hat Stones „Wildente“. 

Khodadadian lässt zwischen den Szenen die Kraft der Elemente wüten, es stürmt, es schneit, es regnet. Bühnennebelschwaden wabern und zusammen mit der von Johannes Mittl verantworteten Musik – schmerzhaft lauter Klassikbombast, jedes Mal abgewürgt mitten im Takt – entstehen Bilder, die einen außerordentlichen Sog entfalten. Wie ein Stummfilm auf Speed. Warum es 14 Jahre dauern musste, ehe die „Wildente“ von Simon Stone erstmals auf Deutsch gespielt werden konnte, ist schwer zu begreifen. Die Göttinger Inszenierung hat diese lange Wartezeit nun jedoch sehr würdig beendet.  

Erschienen am 10.10.2025

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