Thema
Die Brandwunde des Begehrens
Isabelle Huppert, die Grande Dame des französischen Films, spielt endlich wieder Theater: „Phèdre(s)“ in der Regie von Krzysztof Warlikowski. Ein Gespräch mit Lena Schneider
von Isabelle Huppert und Lena Schneider
Erschienen in: Theater der Zeit: Isabelle Huppert: Exklusiv im Gespräch (06/2016)
Assoziationen: Europa Akteure Dossier: Bühne & Film
Das Gespräch hat noch nicht begonnen, der Chabrol-Film im Kopf der Interviewerin schon. Ein kleines, nobles Hotel in Paris. Draußen unaufhörlicher Regen. Drinnen schickt ein beleibter Amerikaner seine unpässliche Frau aufs Zimmer. Gedämpfte Unterhaltungen. In das Warten hinein ein entschuldigender Anruf aus dem Pressebüro, Madame Huppert verspätet sich. Also doch eine Konvention, die die Meisterin der unkonventionellen Rollen beherrscht, denkt die Interviewerin noch: die Diva, die auf sich warten lässt. Dann guckt Isabelle Huppert plötzlich um die Ecke, ohne Leibgarde, ohne PR-Konvoi. Schwarzer Mantel, Blässe. Fast hätte man das Gesicht nicht erkannt, es lächelt. Natürlich: kein Chabrol-Film. Isabelle Huppert weiß trotzdem, was sie sagen will und was nicht. Sie ist, was zu erwarten war, ganz anders als erwartet. Geerdet. Freundlich. Geduldig. Und, manchmal, beinahe koboldhaft.
Isabelle Huppert, in einem Interview sagten Sie kürzlich: „Ich mache Theater weiterhin als Amateurin.“ Sie, Amateurin?
Ich empfinde mich nicht als Theaterschauspielerin. Das gibt mir eine große Freiheit. Im Theater fühlt man sich oft verpflichtet, auch Theater zu machen. Ich empfinde diese Verpflichtung nicht.
Was heißt das? Sie sind freier, weil es für Sie nicht nur das Theater gibt?
Ich habe den Eindruck, dass das Theater immer noch zu oft Opfer von Konventionen ist. Natürlich arbeiten heutzutage die meisten Inszenierungen mit Soundverstärkern. Das befreit die Schauspieler von einer großen Einschränkung, weil das Sprechen ungemein theatral wird, wenn man immerzu die Stimme heben muss. Trotzdem habe ich das Gefühl, dass man im Theater immer noch Probleme mit der Natürlichkeit hat, dass man sich oft von der Sprache einschüchtern lässt. Denn natürlich hat man es oft mit einer sehr reichen, ausgearbeiteten Sprache zu tun. Ich versuche, mich nicht einschüchtern zu lassen. So natürlich wie möglich zu sprechen. Deswegen sage ich, vielleicht auch mit ein bisschen Koketterie: Ich bin keine Theaterschauspielerin.
Aber Sie haben im Theater angefangen, mit einer klassischen Ausbildung am Pariser Konservatorium.
Ja. Trotzdem würde ich sagen, dass meine Anfänge beim Film liegen. Schon vor der Ausbildung hatte ich ja für das Kino gearbeitet. Am Konservatorium habe ich auch nicht viel gelernt. Ich habe da nicht hart gearbeitet. War eher Beobachterin als Schauspielerin. Wobei das natürlich auch eine Art zu lernen ist.
Es stimmt, dass Sie in Ihrer Art und Weise, wie Sie Sprache auf der Bühne behandeln, in Frankreich singulär dastehen. Hier regiert der Respekt für das Wort.
Ich nehme das als Kompliment. Ich bewundere deutsche Schauspieler, bei denen man den Eindruck hat, dass sie eher mit dem Körper spielen. Ich hatte auch das Glück, mit Leuten wie Peter Zadek, Bob Wilson und Claude Régy zu arbeiten. „Maß für Maß“ von Peter Zadek war meine erste große Theaterarbeit, und Zadek war der Erste, der zu mir sagte: „Man kann im Theater ganz leise sprechen. Selbst wenn man nicht alles versteht, ist das nicht so schlimm. Dann müssen die Zuschauer besser hinhören.“ Dinge, die ein bisschen provokativ sind, aber sehr heilsam für das Theater.
Haben Sie Zadeks Arbeit denn als etwas Provokatives erlebt?
Nein, für mich war Zadek vor allem ein großartiger Regisseur. Gleichzeitig hatte seine Arbeit natürlich etwas Provozierendes, etwas, das ich damals mit der „Ästhetik des Hässlichen“ beschrieben habe. Ein Blick auf die Welt, der sie als etwas Hässliches zeigt. Ein sehr fesselnder Blick.
Zurzeit touren Sie mit Krzysztof Warlikowskis „Phèdre(s)“ durch Europa. Warlikowski sagt: „Wenn man ein Projekt wie ‚Phèdre(s)‘ mit Isabelle Huppert macht, dann spielt man zunächst mit dem Mythos von Phädra – wissend, dass im Innern der Mythos von Isabelle Huppert steckt.“
Das sind Sätze, die für mich ein bisschen hohl klingen. Aber ich verstehe, was gemeint ist, denke ich. Wenn Krzysztof vom „Mythos Isabelle Huppert“ spricht, dann meint er nichts anderes als die Essenz einer einzelnen Person. Man konfrontiert sich im Theater ja mit Charakteren, die um ein Vielfaches größer sind als man selbst, mit universellen, zeitlosen Figuren, die den Menschen eine Art vorübergehende Orientierung geben. Der einzige Sinn, sich mit diesen Figuren auseinanderzusetzen, kann darin bestehen, sie ganz und gar zum Leben zu erwecken. Und das geht nur, indem man diese Figuren völlig durch sich hindurchlässt. Indem man durch diese Figur hindurch selbst das Wort ergreift. Wenn Warlikowski mich bittet, Phädra zu spielen, dann bittet er mich nicht, irgendein imaginäres Schema nachzuspielen. Im Gegenteil, er lädt mich ein, ganz ich selbst zu sein. Und das Überraschende an seiner Inszenierung ist ja, dass es viele „ich selbst“ gibt. Ein Traum für jede Schauspielerin.
„Phèdre(s)“ verwendet neben Texten von Sarah Kane und J. M. Coetzee „La chienne“ (Die Hündin) von Wajdi Mouawad. Bei Mouawad ist die Liebesgöttin Aphrodite, ebenfalls von Ihnen gespielt, eine Art Schauspielerin.
Wajdi macht aus Aphrodite so etwas wie ein ewiges Symbol. Auch etwas dekadent, immerhin ist sie ja eine Pornodarstellerin. Sie ist die Repräsentantin einer dekadenten Spektakelgesellschaft. Einer Gesellschaft, die alles verkauft. Er lässt sie sagen: „Die Liebe, deren Göttin ich bin, war nie das Privileg der Künstler, sondern der Männer von Welt.“ Die Vision einer Liebe, die wie bei Sarah Kane ein bisschen … dekadent ist.
Eine Liebe, die keine Zärtlichkeit kennt, sondern nur Begehren?
Ja. Und um seinem Begehren zu entsprechen, muss man manchmal die schändlichsten Dinge tun. Wie die Pornodarstellerin, eine Frau, die sich erniedrigt. Eine andere Vision der Liebe. Aber auch die hat ihre Größe. Sagen wir so: Zusammen ergibt das eine vollständige Vision der Liebe, und keine ätherische. Eine schwer erträgliche Vision der Bedürfnisse und Abhängigkeiten, die die Liebe ausmachen.
Wer ist Phädra für Sie?
Die Frage habe ich mir so nie gestellt. Im Stück wird sie aus mehreren Perspektiven gezeigt, was verhindert, dass man eine eindeutige Antwort darauf findet. Sie ist vor allem eine Idee, ein bisschen wie Madame Bovary, die die Idee von Langeweile, von zufriedener Liebe ist. Phädra, das ist die Idee des tödlichen Begehrens. Ja, Phädra ist auch die verbotene Liebe – obwohl Hippolyt nicht ihr Sohn ist, sondern ihr Stiefsohn. Phädra ist letztlich die Brandwunde des Begehrens. Das skandalöse Begehren schlechthin. Aber ist Begehren nicht immer skandalös? Begehren ist etwas Schönes, aber im Liebesakt selbst gibt es doch immer etwas, das … das man nicht zeigt. Das Dunkle des Begehrens, das man nur schwer repräsentieren kann. Etwas Bestialisches. Das ist Phädra. Aber sie ist eben auch Elizabeth Costello, die Figur von J. M. Coetzee, die das Begehren in etwas Intellektuelles verwandelt. Und Sarah Kanes Phädra, die von ihrem Begehren völlig abgetrennt ist. Für mich ist Phädra all das, all diese Phantasmen, die sich um das Begehren entspinnen.
Dass Phädra eine Frau ist, ist selbstverständlich oder unwichtig?
Phädra ist eine Frau. Aber als Elizabeth Costello im Stück von unzulässiger Liebe spricht, sagt sie, die Liebesanzeige einer weißen Frau um die sechzig, die einen „gottgleichen Liebhaber für eine Beziehung, die Worte nicht beschreiben können“ sucht, würde von einer Zeitungsredaktion in die gleiche Schublade getan wie die Anzeige eines Homosexuellen. Was zeigt, dass homosexuelle Liebe auch ein Tabu darstellt. Ja, Phädra ist eine Frau, und? Es geht um das Begehren im Allgemeinen.
Warlikowski hat ziemlich starke Ideen, was den Unterschied zwischen Männern und Frauen angeht. Er sagt: „Männer sind das Ego, sind Schauspieler. Frauen sind widerständiger, sind viel mehr für das Theater gemacht.“
Ah, das ist interessant, dass Krzysztof das sagt. (Schweigen) Das ist eine heikle Frage. Heikel, weil Frauen auch ein Ego haben, ein sehr starkes sogar. Vor allem Schauspielerinnen. (Schweigen) Aber es stimmt, dass Schauspieler oft eine Tendenz haben, sich die Macht einfach so zu nehmen. Das spürt man, im Film wie im Theater.
Warlikowski sagt auch, dass Frauen viel weniger rational und deswegen besser geeignet fürs Theater seien. Wenn ich Sie auf der Bühne oder in einem Film sehe, dann sehe ich das Gegenteil: Der Verstand ist nie weit weg, auch in den körperlichsten Momenten nicht. Sind Sie einverstanden mit Warlikowskis Idee?
Darüber habe ich nie nachgedacht. Wirklich, darauf kann ich nicht antworten.
Zu generell die Frage?
Ja, zu allgemein. Es kommt auf die Männer an, auf die Frauen. Es stimmt, dass Frauen sich oft wohler damit fühlen, Schauspielerinnen zu sein, als Männer mit ihrer Rolle als Schauspieler. Vielleicht ist es für einen Mann ein bisschen mehr gegen die Natur, Schauspieler zu sein. Vielleicht ist ein Schauspieler manchmal unflexibler. Es fällt mir schwer, zu dem Thema etwas Definitives zu sagen. Vielleicht ist bei Schauspielern das Ego manchmal sichtbarer als bei Schauspielerinnen. Schauspielerinnen sind ein bisschen schlauer, was das angeht. Ein bisschen strategischer. Männer sind das weniger. Das heißt, Frauen haben nicht weniger Ego, sie zeigen es weniger frontal. Voilà.
Eine konkretere Frage: Welche der drei Phädren, die Sie in Warlikowskis Inszenierung spielen, ist Ihnen am nächsten?
Keine von ihnen. Das ist ja das Amüsante daran. Auch im Film ist das so, dass ich nichts mit den Figuren, die ich spiele, zu tun habe. Meine ganze Arbeit besteht darin, dass ich so tue, als seien sie ich. Aber habe ich das Geringste mit der Klavierspielerin zu tun? Nein. Ich sorge dafür, dass sie sich universell und nahe anfühlen. Ich drücke Gefühle aus, Zustände. Natürlich ist mir zum Beispiel bewusst, dass die Phädra von Wajdi Mouawad ein Mädchen ist, das in seiner Kindheit gelitten hat. Danach konstruiere ich die Figur. Aber ich habe keine Nähe zu diesen Heldinnen. Sie sind mir egal. Die Arbeit für einen Schauspieler beginnt nicht in der Beziehung zu den Figuren.
Wo beginnt die Arbeit dann?
Jedenfalls nicht dort. Eher bei der Form. Die Phädra von Wajdi zum Beispiel ist sehr körperlich. Wie ein offenes Geschlechtsteil. Die Phädra von Sarah Kane ist eine Unbewusste. Verschlossen, steif, eine Bürgerliche. Die Phädra von Coetzee ist eine Phädra der Sprache, des Intellekts.
Coetzees intellektuelle Phädra ist diejenige, die am besten klarkommt, oder?
Jedenfalls stirbt sie nicht.
Das Erstaunliche an Warlikowskis Phädren ist ja, dass keine von ihnen stirbt. Sie erhängen sich auf der Bühne – aber in der folgenden Szene ist eine andere wieder da. War das Warlikowskis Idee: Phädra, die Frau, die nicht stirbt?
Warlikowski hat mir gar nicht so viel von seiner Konzeption erzählt. Das mag ich auch an ihm: Ich spüre bei den Proben, dass es eine Form gibt, die dabei ist, sich zu entwickeln. Aber gleichzeitig ist da wenig, was man vorher auf dem Papier hätte formulieren können. Das ist ja das Mysterium jeden Theaters, jedes Films. Alle Beteiligten sind Zeugen dessen, was passiert, und während wir Zeugen sind, nimmt das Ganze langsam Gestalt an. Es gibt etwas sehr Primitives, sehr Schönes in diesem Entstehungsprozess. Einzelne Bewegungen, einzelne Formen, die sich dann zusammenfügen.
Luc Bondy, in dessen „Les fausses confidences“ Sie 2014 die Araminte waren, beschrieb Ihre Bühnenpräsenz als „undurchschaubare Transparenz“. Erkennen Sie sich darin?
Man ist sich seiner eigenen Wirkung nie völlig bewusst. Aber ich weiß, was Luc sagen wollte, denke ich. Es ist vielleicht diese Fähigkeit, einen Satz so zu sagen, dass man ihn versteht und gleichzeitig nie völlig versteht. Dieses Halbverstehen ist sehr gut so. Denn vielleicht sind die Leute am meisten bei sich in diesem offenen Raum, in dem ein Rest Unverständnis bleibt. Es gibt ja in vielem, was man sagt, eine Art Frage, eine Hypothese. In dem Sinn, dass vieles vom Gesagten auch das Gegenteil sein könnte. Vor allem, wenn wir von Dingen wie der Liebe sprechen.
Ist es Ihnen als Schauspielerin wichtig, widerständig zu sein – der Kamera, dem Regisseur, vielleicht auch dem Zuschauer gegenüber? Das ist der Eindruck, den man hat, wenn man Sie auf der Bühne oder in Filmen sieht.
Vielleicht. Das läuft so unbewusst ab, dass es mir schwerfällt, es konkret zu benennen. Vielleicht nicht widerstehen. Eher …
… etwas zurückhalten?
Ja. Nein. Eher der Versuch, eine eigene Welt um sich herum aufrechtzuerhalten. Eine Art der Dialektik. Es gibt ja immer mehrere Welten, die sich in einem Film erzählen, die im Austausch sind. Um seine eigene Welt zu behaupten, muss man zunächst eine haben. Auch, um so stark wie möglich hervorzutreten.
Also geht es nicht darum, sich zu schützen?
Nein, im Gegenteil. Es geht darum, sich so stark wie möglich auszusetzen.
Nach Bondys Tod beschrieben Sie die „unglaubliche Fülle an Arbeit, die er bewältigte, diese ‚Bulimie‘, die eine Art ist, um mit großen Ängsten umzugehen, mit Ängsten, die wiederum die Arbeit nähren“. Sie selbst arbeiten auch unglaublich viel. Allein 2016 fünf Filme!
Oui, oui. Aber bei Luc war das doch etwas ziemlich anderes. Er arbeitete in alle Richtungen, war für ganze Projekte verantwortlich. Ich bin als Schauspielerin ja immer auch den Wünschen anderer unterworfen. Er als Regisseur hingegen musste ständig große Entscheidungen treffen: Tschechow oder Shakespeare? Sicherlich ging es bei ihm darum, mit Ängsten, mit seiner Krankheit umzugehen. Luc war eigentlich eine leichte, poetische Existenz.
Ganz am Ende von „Phèdre(s)“ rezitieren Sie, nach drei Stunden Mouawad, Kane und Coetzee, einige Verse Racine. Am Odéon-Théâtre hatte ich das Gefühl, das Publikum aufatmen zu hören.
Das ist sehr amüsant, weil ich auch das Gefühl habe, dass die Leute an dem Punkt plötzlich verstehen, woher die anderen Phädren kommen. Als würden sie das ganze Stück noch einmal durchleben, wie in einem riesigen Flashback.
Das Pariser Publikum sieht lieber das Schöne auf der Bühne als die Brüche, oder?
Ich hoffe doch beides.
Sie sind diplomatisch. (koboldhaftes Lächeln) Optimistisch. //