Theater der Zeit

Thema

Mensch am Draht

Die Neurotheater-Stücke der CyberRäuber. Marcel Karnapke und Björn Lengers im Gespräch mit Nathalie Eckstein und Thomas Irmer

von CyberRäuber, Thomas Irmer und Nathalie Eckstein

Erschienen in: Theater der Zeit: BRACK IMPERieT – „Hedda Gabler“ von Vegard Vinge und Ida Müller in Oslo (09/2022)

Assoziationen: Kinder- & Jugendtheater Dossier: Digitales Theater Hessisches Staatstheater Wiesbaden

Vera Hannah Schmidtke, Philipp Steinheuser und Sophie Pompe in „Der Mensch ist ein Anderer" von den CyberRäubern am Jungen Staatstheater Wiesbaden.
Vera Hannah Schmidtke, Philipp Steinheuser und Sophie Pompe in „Der Mensch ist ein Anderer" von den CyberRäubern am Jungen Staatstheater Wiesbaden.Foto: Christine Tritschler

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TdZ: Am Jungen Staatstheater Wiesbaden haben die CyberRäuber „Der Mensch ist ein Anderer“ auf die Bühne gebracht. Jeden Abend wurde der Text von einer Künstlichen Intelligenz (KI) neu geschrieben und unkuratiert bzw. unlektoriert gespielt. Die drei Schauspieler:innen auf der Bühne hörten den Text über In-Ear- Kopfhörer. Worum genau handelte es sich da?

Björn Lengers: „Der Mensch ist ein Anderer“ ist nach „Prometheus unbound“ unsere zweite abendfüllende Arbeit, die sich mit Künstlicher Intelligenz auf einer Theaterbühne auseinandersetzt. Neuronale Netze können Bilder und Videos generieren, die eine besondere, originelle Qualität haben. Die Netze sind mit enormen Datenmengen trainiert, und daraus entsteht dann etwas, das wie Kreativität wirkt. Und da stellt sich die Frage: Ist das überhaupt Kunst, wenn das eine Maschine produziert? Diese Frage ist verbunden mit einer Menge Vorurteilen und Fantasien in Verbindung mit Künstlicher Intelligenz. Neuronale Netze können auch Texte produzieren. Wir haben mit GPT-3 gearbeitet, denn GPT-3 kann gut Deutsch und ist in der Lage, Genres zu erkennen und zu reproduzieren. Das ist interessant fürs Theater, denn Text ist einer der wesentlichen Bestandteile von Theater, wie ich es verstehe. Der Text ist im Grunde, wir sind ja beide Programmierer, der Code des Theaters. Auf diesem Code laufen Prozesse ab, die sonst kreative Prozesse von Menschen sind. Aber wenn das nun aus einer Maschine kommt, was heißt das fürs Theater? Die Frage ist auch, wie bekommt man den Text auf die Bühne? Um die Kreativität der Maschine in Echtzeit zu erleben, fanden wir es am radikalsten, dass keine menschlichen Entscheidungen mehr getroffen werden. Das ist das Experiment. Wir arbeiten hier mit sehr vielen unterschiedlichen Textsorten, aber mit GPT-3 gelingt es, auch länger zum Beispiel in Schillers Sprachduktus zu bleiben und eine entsprechende Szene entstehen zu lassen.

Marcel Karnapke: Ich glaube, dass wir einerseits Hochtechnologie nutzen und andererseits das Theater als eine Art Linse fungiert, um diese Technologien zu erforschen und mit ihnen zu experimentieren. Wenn man Theater macht, steht der Mensch immer im Mittelpunkt, und wichtig war, dafür die Netzwerke zu analysieren. Wir leiten diese großen Datenströme letztlich durch Menschen hindurch. Wir haben verschiedene Möglichkeiten ausprobiert, einen Menschen an das Netzwerk anzuschließen, zunächst mit Projektionen. Aber das führt dann dazu, dass alle nur noch auf die projizierten Texte starren. Lesen ist eine ganz andere Art des Verstehens und Verarbeitens als bei akustischen Signalen. Also kam der Mensch an den Draht, indem wir ihn den Text haben vorlesen lassen. Die Spieler:innen hörten ihn über Kopfhörer, zunächst vorgelesen von einer Souffleuse. Wir haben anfangs also mit menschlichen, dann menschenähnlichen Stimmen experimentiert, die den Text emotional aufladen, aber am Ende hat sich gezeigt, dass, je weniger menschlich die Stimme ist und je gleichförmiger die Stimme Wörter vorliest, also je weniger der Text emotional aufgeladen wird, umso besser funktioniert das. Jetzt nutzen wir text-to-speech-Programme dafür. Das ist medienkulturell und technologisch wichtig, um das gewünschte Ergebnis produzieren zu können. Bei „Prometheus“ hatten wir zudem noch das Bedürfnis, Herstellungsweise und technische Grundlagen zu erklären. Bei „Der Mensch …“ laufen diese Prozesse alle im Dunkeln für das Publikum ab. Die Herstellung wird im Stück nicht explizit erläutert, das wird erst im Nachgespräch reflektiert.

TdZ: Man erkennt das verwendete Material, so zum Beispiel ein Wortfeld aus Schillers „Räubern“. Wodurch aber verändert sich der Text von Abend zu Abend? Wo liegt die Intention, kommt die von der Maschine, kommt die aus dem eingespeisten Material, oder habt ihr letztlich doch noch eine Autorfunktion im herkömmlichen Sinne?

Björn Lengers: Natürlich haben wir eine Autorfunktion. Die ganze Dramaturgie, wie der Abend gebaut ist, also welche Textsorten an welcher Stelle kommen, ist ja durch uns vorgegeben. Die Struktur entsteht durch die Art und Weise, wie wir geprobt oder besser gesagt trainiert haben, beide Arbeiten sind gemeinsam mit den Schauspieler:innen entstanden, aber auch zusammen mit dem Team, der Dramaturgie und der Regieassistenz entwickelt worden. Innerhalb des Rahmens und der Struktur, die selbstverständlich umfangreich geprobt und durch ein erarbeitetes Regelwerk klar festgelegt ist, eröffnen wir ein Spielfeld für den Textfluss und die Interpret:innen. Was dann aber jeden Abend neu auf der Bühne passiert und verhandelt wird, das ist jenseits unserer Einflussnahme – und genau das würde ja im konventionellen Theater als Intention bezeichnet werden. Wir bauen einen Rahmen, aber wir inszenieren nichts, legen nichts fest. Ich dachte häufig in den Proben: Was für ein genialer, was für ein schöner Moment, wir hatten gerade den besten Text der Welt, die Reaktionen der Schauspieler:innen waren genau richtig, und wie gerne würde ich das rekreieren bei der Aufführung vor Publikum. Aber das ist ja genau das, was wir nicht wollen. Wir hoffen für jeden Abend, dass wieder möglichst viele dieser Momente entstehen. Das ist vielleicht dem Publikum gegenüber unfair, weil es immer neu konfrontiert wird, während wir den Prozess mitdenken und auch eine größere Geduld dafür entwickeln, dass z. B. zehn Minuten lang der Text nicht gut funktioniert oder Wiederholungen passieren, im Wissen, dass es gleich wieder geil wird.
Kern dieser Stücke ist, dass Daten durch Menschen hindurchgehen und wie das Publikum Schauspieler:innen dabei zusieht, wie sie ganz unmittelbar auf diese Daten reagieren. Das ist aber kein Improtheater – obwohl sie natürlich improvisieren. Es ist eine Mischung aus exzellentem Handwerk und einer unkalkulierbaren Vorgabe: Die hängen ja wirklich am Draht.

Marcel Karnapke: Ich sehe das radikaler. Man kann unendlich viele synthetische Texte generieren. Das heißt, man kann Texte zu allen menschlichen Themen generieren, und im Angesicht dieses potenziell unendlichen Textkorpus relativieren sich die Kunstbewertungsmaßstäbe, die man eigentlich an Theater oder an die Intention von Theater anlegt. Wenn ich unsere Abende erlebe, merke ich, wie emotional das Publikum reagiert, auch in den Nachgesprächen, aber gleichzeitig sehe ich vor meinem inneren Auge Tausende dieser Abende gleichzeitig, und die Frage nach der Qualität stellt sich da ganz anders. Wenn ein festgelegter Text, wie er üblicherweise am Theater verwendet wird, in die Schauspieler: innen einfließt, dann werden diese zu Träger:innen des Textes. Hier ist es eher so, dass die Schauspieler:innen den Text nicht durch Repetition schon reflektiert haben, sondern mit dem Text eine Art Flow entsteht. Sie sind in einem Fluss, und der Text wird fast automatisch durch sie durchgeleitet. „Mensch am Draht“ hat somit auch einen radikalen Einfluss aufs Schauspiel und auf die Wahrnehmung des Stücks. Sowohl technologisch als auch kulturell und theatral sind so viele Sachen vollkommen anders, als wir sie gewohnt sind, dass ich einen neuen Begriff vorschlagen würde: Neurotheater. Wir müssen auf beiden Seiten ein neues Verständnis herstellen, für die Produktion und für die Rezeption.

TdZ: Man kann das ja durchaus vergleichen etwa mit Sebastian Hartmanns Verfahren der „gelenkten Improvisation“, bei der die Schauspieler:innen frei mit ihrem Assoziationsmaterial arbeiten. Aber Sie wollen letztlich, dass der Computer das macht?

Björn Lengers: Das Beispiel Hartmann ist gut, weil er ja auch sehr radikal Theater als Kunst des Moments sieht. Und wir fragen darüber hinaus: Gibt es künstliche Kunst, artificial art? Kann man die Kreativität der Maschine ernst nehmen, oder ist das etwas, das nur dem Menschen gegeben ist? Die neuronalen Netze sind natürlich menschengemacht, und sie sind trainiert mit menschlichen Daten. Wir Menschen hingegen sind als Rezipienten auch hervorragende Mustererkennungsmaschinen. Wir interpretieren alles, was wir sehen und hören. Und deswegen sprechen Kunstwerke zu uns. Die Frage ist: Wie geht das weiter?

TdZ: Also das würde heißen, dass dem dramatischen Material schon so eine Struktur innewohnt, die dann weitergeführt wird? Was wäre das, was „Die Räuber“ als Material steuert, und was wäre das, was „Warten auf Godot“ als Material steuert?

Björn Lengers: Wir nehmen Textanfänge. Da haben wir lange ausprobiert, was funktioniert. Wenn wir aus „Warten auf Godot“ drei Sätze einspeisen und das Netzwerk anschließen, dann geht das mit einer hohen Zuverlässigkeit in dem Stil weiter. Dasselbe gilt für Gedichte, Balladen oder die verwendete Schlagermusik. Auf einem vorgegebenen Format basierend versucht das Netzwerk, dieses strukturell fortzusetzen.

TdZ: Noch einmal anders gefragt: Ein großer Teil der Literatur entsteht ja aus Schmerz, Verlust, Verzweiflung usw. Das wäre auf der Textmaterialebene nicht der Fall. Es gibt ja noch eine Instanz unterhalb der Texte, die nicht nur die Rekombination von Strukturen meint.

Björn Lengers: Das Tragische ist: Es wird ununterscheidbar. Ob da echter Schmerz oder eine echte Liebe drunterliegt, ist kodifiziert im Text. Das, was ich als Lesende:r verstehe, das interpretiere und fühle ich in den Text hinein. Auch bei Texten, unter denen kein menschliches Gefühl liegt. Die Frage ist: Reicht es, wenn das Publikum auf einen maschinengemachten Text trifft, der handwerklich gut auf die Bühne gebracht wurde?

TdZ: Was heißt das für die Schauspieler:innen? Die versuchen ja immer, das Darunterliegende zu erfassen, um es spielen zu können.

Marcel Karnapke: Das ist ein Trugschluss. Die Sinnsuche findet nicht nur im Publikum bei der Rezeption, sondern auch bei den Schauspieler:innen während der Produktion statt. Auch bei von der KI produzierten Texten. Zwischen den Schauspieler:innen entstehen Situationen, Kontexte. Und somit werden auch Emotionen, obwohl diese nicht im Text eingeschrieben sind oder drunterliegen, auf der Bühne manifest. Die Archetypen, die Gefühle sind in den Schauspieler:innen verankert. Und die können dann ausgelöst oder herausgespielt werden. Der Abend bleibt immer in Bewegung. Gerade in der Unwiederholbarkeit der Momente liegt dabei ein eigenes Qualitätsmerkmal.

Björn Lengers: Das ist natürlich auch eine Achillesverse: Das hat schnell den Charakter einer ersten Probe. Es kommt ein Angebot. Es gibt keinen Blick von außen, der korrigiert. Wir trainieren vorher eher, als dass wir proben. Marcel und ich geben Hinweise. Zum Beispiel: nicht dem ersten Impuls zu folgen, keine Klischees zu bedienen. Erstens ist das uninteressant, zweitens ist es wichtig, dass man sich und das Publikum schützt. Wenn die Schauspieler: innen im Flow sind, wissen sie nicht unbedingt immer, was sie da sagen. Aus dem GPT-3 kommen alle möglichen Texte raus. Natürlich mitunter auch diskriminierende Sprache.

TdZ: Wenn jetzt ein Text von Ihnen in Mülheim gewinnt, wer bekommt den Preis?

Björn Lengers: Wir haben uns natürlich beworben in Mülheim, auch bei den Autor:innentheatertagen in Berlin und auch in Heidelberg, denn wir wollen an diesem Dramatikbetrieb teilnehmen und finden es wichtig, diese neue Form der Autorenschaft zu reflektieren. Ich weiß aber auch nicht genau, wie diese Frage zu klären ist. Das Produkt GPT-3 gehört uns ja nicht.

Marcel Karnapke: In Analogie zur Softwareentwicklung: Der Autor ist natürlich der, der den Text schreibt. Aber wenn wir das hier betrachten, ist es mehr als die Summe seiner Teile. Ich glaube, dass wir die Autoren sind, weil wir die Module zusammenbringen. Den Begriff des Autors sehe ich aufweichen und in den Begriff des Designers übergehen. GPT-3 ist mit einem riesigen Korpus menschlicher Texte gefüttert, aber er kompiliert ja nicht nur aus diesem, sondern synthetisiert etwas Neues daraus. All diese Prozesse passieren auch im Kopf des Autors. Aber gibt es den hier noch?

Björn Lengers: Man könnte auch den anderen Weg gehen und sagen, den Preis bekommt die AI. Ich will aber nicht, dass dieser AI-Begriff so personalisiert und mythologisiert wird. Wenn der Text auf der Bühne landet, ist das immer ein Konglomerat aus ganz verschiedenen Faktoren. Stückentwicklung bedeutet also ganz wörtlich, dass sich hier gerade etwas entwickelt. Wir dürfen alle gespannt sein, wohin! //

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