Künstlerinsert
Körpertheater als Iconoclash
Die Extrem-Performerin Florentina Holzinger
Erschienen in: Theater der Zeit: Safety first – Theater in Zeiten von Corona (05/2020)
Assoziationen: Performance Akteure Florentina Holzinger Düsseldorfer Schauspielhaus
Endlich ist es wieder da: das Spektakuläre – Wunder und Staunen. Was im zeitgenössischen Tanz seit dem postmodern turn eher verpönt war, bringt Florentina Holzinger nun wieder auf die Bühne. Mit allen technischen Mitteln, die das Theater zu einer Anstalt der Wünsche, Träume, Verzauberung und – ja, auch bei Holzinger! – der Belehrung machen. Unterhaltung wird großgeschrieben: mit Elementen von Zirkus, Artistik, Maschinen und Medientechnik. Seit Holzinger mit Stücken wie „Kein Applaus für Scheiße“ (2011, mit Vincent Riebeek) bekannt wurde, bietet sie dem Publikum eine aufregende Mixtur aus Ballett, Performance Art, Kampfsport, Horror- und Freakshow, und erregt mit Schweiß und Blut der Tänzerinnen, mit Lachen und Ekel die Gemüter. Man sieht: Das (Tanz-)Theater kann immer noch oder wieder provozieren.
Der Mix der Genres, den Holzinger in die schon länger stagnierende Tanzszene einbringt, hat ikonoklastische Qualität – gerade in Hinsicht auf den Umgang mit dem Kanon, mit Hierarchien im Tanz und mit Stereotypen von Gender. In ihrer mit Vincent Riebeek konzipierten und performten dreiteiligen Choreografie „Schönheitsabend. Tänze des Lasters, des Grauens und der Ekstase“ (2015) kopulieren die beiden Tanzpaare aus der Avantgarde (unter anderem Vaslav Nijinsky und Ida Rubinstein, Anita Berber und Sebastian Droste) unter dem Vorzeichen von Queerness und Exotismus. In den Choreografien „Apollon“ (2017) und „Tanz“ (2019) geht es um die lustvolle Dekonstruktion von Strukturen und Ikonen des Balletts. „Apollon“ überschreibt George Balanchines Choreografie „Apollon musagète“ (1928) mit einer feministischen Lesart. Die hierarchisch-patriarchale Struktur dieses inauguralen Werks – „Mr. B.“ und seine Musen – wird transponiert in weibliche Performance. Balanchines legendärer Satz „Ballet is woman“ wird ironisch konterkariert, denn die Performerinnen exerzieren auf sehr unterschiedliche Weise Disziplinarstrategien und Bewegungstechniken: Das Laufband steht neben der Ballerina, die endlos auf der Spitze balancierend demonstriert, wie ein Ballett-„Exercise“ den Körper prägt. 2007 hatte Yvonne Rainer mit ihrer Performance „AG Indexical, with a little help from H.M.“ für vier Tänzerinnen im Alter zwischen zwanzig und siebzig Jahren eine feministisch-ironische Dekonstruktion von Balanchines „Agon“ (1957) inszeniert. Sie zerlegt diesen Klassiker des modernen Balletts, parodistisch versetzt mit Popkultur (dem „rosaroten Panther“), in einer respektlos-respektvollen Re-Vision. Während Rainer dies jedoch (noch) aus dem Geist des postmodern dance tut, dessen „No to virtuosity, no to spectacularity“ sie selbst geprägt hat, geht Holzinger unbekümmert plündernd durch den Bildersaal der hehren Kunst – und verpasst den Klassikern eine ganz neue Spektakularität. Zu Beginn von „Apollon“ reitet eine nackte Tänzerin auf einem mechanischen Bullen, über ihrem Schoß liegt quer eine ebenfalls nackte Tänzerin, der sie lange und immer kräftiger den Hintern versohlt: Ein erster queergestrickter Verweis auf die Verquickung von Lust und Schmerz im klassischen Tanz(-training)? Oder eine Parodie auf das (ebenfalls parodistische) Bild von Max Ernst: „Die Jungfrau züchtigt das Jesuskind …“ (1926)? Die Zuschauer mögen herausfinden, welche Lesarten Holzingers Performance bereithält.
Etwas didaktischer nähert sie sich dem Exercise des Balletts in „Tanz“: als Einübung in die kunstspezifische Ästhetisierung und Sexualisierung des Ballerinen-Körpers. Jan Fabre hat in „Das Glas im Kopf wird vom Glas (The Dance Sections)“ (1987) eine Gruppe von Tänzerinnen (er nannte sie „Kriegerinnen der Schönheit“) in blauem Bikini und blauen Spitzenschuhen sowie in blitzenden Rüstungen endlose „tendus“ durchführen lassen. Holzinger inszeniert – gegen den männlichen Blick – eine Gegenfiguration, ironisch weichgezeichnet: Die Tänzerinnen trainieren in Rosa, und schließlich nackt, zu den im Kuschelsound vorgetragenen Ansagen der Ballettmeisterin (hinreißend: Beatrice Cordua), die in sexuellen Übergriffen münden; bis schließlich Horror- und Freak-Elemente die krasse andere Seite des Voyeurismus einspielen. So experimentiert die Dramaturgie durch „Zeigen“ (Holzinger übersetzt aus der feministischen Tanztheorie bekannte Thesen wie „the phallic point of the ballerina“ oder, dass Posen der Ballerina „crotchy“ seien, also offen im Schritt) und „Schocken“ mit anderen Perspektiven auf den Tanz.
Körpergrenzen/Limits – Holzinger ist keine klassische Balletttänzerin; sie hat sich – ausgebildet an der SNDO in Amsterdam in Trainings des zeitgenössischen Tanzes – Techniken des Zirkus, Kampfsport, Stunts angeeignet und teilt dies mit Performerinnen, die jeweils Expertinnen dieser Bewegungstechniken sind. Ihre Stücke sind Tests auf die Limits des Körperlichen, bis an und über die Schmerzgrenze. Was in der Performance Art der siebziger und achtziger Jahre Thema war – die Selbstverletzungen feministischer Body-Performerinnen wie Marina Abramović oder ORLAN, die Post-Porn-Performances einer Annie Sprinkle und die blutigen Rituale der Wiener Aktionisten – kreuzt sie mit Elementen aus Horrorfilmen, sideshow und Zirkus: In „Apollon“ treibt sich eine Performerin einen acht Zentimeter langen Nagel durch die Nase, lässt einen aufgeblasenen Luftballon durch ihren Körper passieren. Und in „Tanz“ eskaliert die Inspektion der weiblichen Geschlechtsorgane urplötzlich in ein Horror-Splatter-Movie: Ein Werwolf (der später gepfählt wird) filmt eine blutig-gruselige Hexen-Monster-Geburt, großflächig projiziert auf einen Screen. Die Nachtseite der Romantik, schwarze Magie und die Lust am Schrecklich-Grausigen sind in Holzingers Dramaturgie die andere Seite des weißen Feenzaubers und der ätherischen Leichtigkeitsillusion. Hatte in den achtziger Jahren kritisches feministisches Theater, etwa Elfriede Jelineks „Krankheit oder moderne Frauen“ (1987), noch Horror-Blut-Vampir-Szenen auf dem Gynäkologie-Stuhl platziert, so reißt Holzinger die Körper in Gonzo-Manier auf im Zoom der Kamera. Könnte es sein, dass sie damit das Konzept des „porösen Körpers“, das eine maßgebliche Rolle in den Ausbildungsinstituten des zeitgenössischen Tanzes spielt (die „Öffnung“, die Grenzüberschreitungen des Körpers nach innen, wie zum Beispiel im Body Mind Centering und anderen somatischen Praktiken), nach außen wendet? Widerständig und grenzenlos übertragbar. Ein Experiment durch alle Register des Spektakulären.
Körper/Maschinen – Die Art und Weise, wie Holzinger das Thema Mensch (und) Maschine in das „theatrum machinarum“ überträgt, ist intelligent, überraschend, witzig. In „Tanz“ sind es zwei blitzende Motorräder, die an die Stelle jener Flugmaschinen treten, mittels derer die Sylphiden im Ballett „La Sylphide“ (1828) über die Bühne schwebten. Nun reiten zwei nackte Tänzerinnen in halsbrecherischen Stunts auf den Maschinen durch die Luft. In „Apollon“ ist es eine mechanische Stierattrappe, mit der Holzinger nackt in einem virtuosen Rodeo-Akt zu einer hybriden Gestalt verschmilzt. An die Stelle der romantischen Feier des Antigraven und der Illusion des Schwebens der Ballerina tritt hier die kampfsporttrainierte lustvolle Beherrschung von Stahlkörpern. Es ist gleichermaßen eine Übernahme männlich dominierter Sportarten und eine feministische Umdeutung des Apollon-Mythos: die triumphale Stierbändigerin im Rodeo-Look (mit einem Zitat aus Madonnas Musikvideo „Music“, 2000) als Travestie der Jupiter-Europa-Chimäre. Sind nicht Körper und Technik längst, und gerade im Theater und Ballett, eine hybride Assemblage? Und wenn es um das „Schweben“ geht: Wo liegt der Unterschied, so fragt Holzinger, von einer unter Schmerzen erworbenen Körpertechnik wie dem Tanz „en pointe“ (auf Spitze, eingesetzt erstmals von Marie Taglioni) und der Körperpraxis einer „suspension“, das heißt dem Aufspannen, Aufhängen eines Körpers, der durch Haken in der Haut gehalten und an Seilen in die Luft gezogen wird? Der australische Performance-Artist Stelarc hat seit 1984 mit diesen spektakulären Aktionen – an Haken und Seilen hängend, über den Straßen New Yorks und in Naturszenarios – immer wieder mit der Erweiterung des Körpers („amplified body“) experimentiert. „Suspensions“ meinte das Aufheben und zugleich Zeigen der Gesetze der Schwerkraft ebenso wie die Suspendierung von Körpergrenzen: Körper in einem Zwischenzustand – „a suspended body is a zombie body“ (Stelarc). Vorbild für Holzingers „suspension“-Szene ist vermutlich eher die Freakshow, in der Legenden wie John Kamikaze und Franck Ncy diesen Schausteller-„Trick“ vorführen. In „Tanz“ sieht der Zuschauer – zwischen Hinsehen und Wegschauen – die Operation der „suspension“ in Video-Großaufnahme. Wie in der Freakshow wird das „Schweben“ der Sylphide (die als Geisterwesen ja auch ein „Zombie“ ist) inszeniert. Und grausig-berührend werden genau da, wo bei der „Sylphide“ im Ballettkostüm die durchsichtig zarten Flügelchen sitzen, die Fleischerhaken in den Rücken der nackten Tänzerin gepierct. So schwebt sie, schwingt sie am Seil – ein „schweres Schweben“.
Publikum/Spectator – Holzinger gibt dem Publikum, was es schon lange im Tanz vermisst hat: Unterhaltung, Spektakuläres, einen Szenenmix aus Witz, Horror und klug gesetzten Effekten. Ihre Absicht: Tanz und seine impliziten Strukturen so zu zeigen, wie es das Publikum nicht erwartet und noch nie gesehen hat. Die Nacktheit der Tänzerinnen hält sie dem „spectator“ wie einen Schild vor Augen, in dem die Projektionen zurückgespiegelt werden. Nacktheit, unter den Rahmenbedingungen des Theaters – in der Gleichzeitigkeit von Darbietung des Körpers und Unnahbarkeit – ist eine andere Art von „Kostüm“, so der Kommentar von Holzinger auf die Mediendebatte, die anlässlich der nackten Tänzerinnen in ihren Stücken aufkam. In „Tanz“ gibt Holzinger kurzerhand dieser Diskussion eine andere Wendung: Sie verhandelt mit dem Publikum, wie viel ihm dieser Einblick in eine Ballettstunde mit nackten Tänzerinnen wert sei („We are at your service“). Sie treibt den Preis in die Höhe wie auf einem Markt und verspricht dem Geber die Rückgabe des Scheins. Das Geld wird verdeckt durch die Reihen gereicht. Wie in einer Zaubershow macht Holzinger über einen „Mentaltrick“ die Person im Publikum ausfindig, in deren Händen der Schein gelandet ist – und schlägt dann vor, das Geld für die Rettung der Natur zu stiften. In Pina Bauschs Stück „Kontakthof“ (1978) bittet eine Tänzerin einzelne Personen aus dem Publikum um eine Münze. Das Durchbrechen der vierten Wand wird zum Spiel mit der Ökonomie von Geben und Nehmen im Theater als einem „Kontakthof“. Ähnlich und doch anders adressiert Holzinger das Publikum: Lässig-selbstbewusst und fordernd spricht sie den Voyeurismus offen an. Sie entlarvt damit jene Rückseite des Balletts, wo sich Tänzerinnen – nicht nur im Ballett des 19. Jahrhunderts – in sexualisierten Machtstrukturen befinden, ohne jemanden bloßzustellen. Den Respekt, den sie für ihr Tanztheater einfordert, erweist sie auch dem Publikum.
Man darf gespannt sein, wie sie, ab 2021 im Team von René Pollesch, an der Volksbühne Berlin weitermachen wird. //