Theater der Zeit

Dritter Teil. Das (lange) 19. Jahrhundert. VI.

Der historische Kontext

Neue Urbanität und Film

von Joachim Fiebach

Erschienen in: Welt Theater Geschichte – Eine Kulturgeschichte des Theatralen (05/2015)

Assoziationen: Theatergeschichte Dossier: Bühne & Film

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Was sich im Paradigmenwechsel des Theaters um die Jahrhundertwende zeigte, war struktural vorgeprägt in dem fundamentalen Kommunikationsumbruch, der in der ersten Hälfte des Jahrhunderts mit der Eisenbahn, der Telegrafie, der Dampfschifffahrt, der Fotografie begonnen hatte. Ein Produkt der Industrialisierung, war dieser Umbruch zugleich eine entscheidende Triebkraft ihrer stürmischen Bewegung, der sich tendenziell immer mehr beschleunigenden, historisch neuartigen Dynamisierung aller Lebensprozesse und den damit verbundenen dramatischen Veränderungen des Erlebens der Dinge. Überkommene Vorstellungen einer einfach-linearen Bewegung von Zeit und eines nicht-korrespondierenden Nebeneinanderliegens von Räumen oder ihren Teilen gerieten in die Krise, neue Sehweisen oder auch Wahrnehmungszwänge erweiterten enorm die Möglichkeiten produktiver Erfahrung und Aneignung der Welt. Die Eisenbahnreise war symptomatisch. Sie inszenierte für den im schnellen Wechsel der Perspektiven schweifenden Blick gleichsam simultan neue Landschaften/Räume. 1861 schrieb Benjamin Gastineau, der Blick aus dem Abteilfenster sei durch eine neue Fähigkeit geprägt, die er „die synthetische Philosophie des Auges“ nannte. Die Dampfkraft verschlinge einen Raum von 15 Meilen pro Stunde, reiße dabei „die Kulissen und Dekorationen mit sich“ und verändere „in jedem Augenblick den Blickpunkt“.252

Der Blick wurde immer stärker der machtvollen Visualisierung einer panaromatischen Wirklichkeit mit verwirrend vielen und schnell wechselnden Perspektiven ausgesetzt. Zugleich aber hatte sich seit der Mitte des Jahrhunderts mit dem exponentiell wachsenden industrialisierten Zeitungs- und Buchdruck und einer massenhaften Alphabetisierung die überragende Rolle der gleichsam linear „abstrakten“ Schriftlichkeit als Kommunikations- und so wesentliche Aneignungsweise der Welt enorm gesteigert.253 Die Entwicklung der Chemie- und Elektroindustrie und die jetzt mit Fotografie, Telefon, Grammofon und vor allem Film beginnende allumfassende audiovisuelle Mediatisierung der Lebenswelt – spezifische Ergebnisse der stürmischen Industrialisierung und des Kommunikationsumbruchs – erhöhten gegen Ende des Jahrhunderts das Potenzial der verstörenden, gleichsam unklaren Erfahrung der neuen Realitäten.254 Im Unterschied zu der mit der Dampfkraftindustrie und ihren Produkten (Eisenbahn) sichtbaren Dynamisierung bewegte man sich jetzt in einer auch wesentlich von unsichtbaren chemischen und elektrischen Prozessen bzw. ihren Produktionen und Apparaturen beschleunigten Welt. Wie das den antinaturalistischen Koordinatenwechsel geprägt haben könnte, diskutiere ich im Abschnitt Ästhetik des Verschwindens. Hier geht es um die Korrespondenz zu – oder sogar die Kausalbeziehung seiner künstlerischen Strukturen mit – den Merkmalen der Dynamisierung der Lebensverhältnisse, insbesondere der Entfaltung einer modernen Urbanität.

Moderne Urbanität ist hier verstanden als ein Komplex neuer Lebensrhythmen, Sensibilitäten, Verhaltensweisen. Eine Collage zeitgenössischer Erlebnisbeobachtungen zur Kommunikation in Berlin zwischen 1900 und 1913, von Bernd Schmidt zusammengestellt und kommentiert, gibt darüber Auskunft. Als ein fiktiver Report über einen Berliner, der einem Provinzler seine Stadt zeigt, illustriert sie, wie und in welchem Maße Individuen ständigen Perspektivenwechsel (Simultaneität), neue urbane Lebensrhythmen und so die Veränderung und/oder den Verlust fester Standpunkte (Blickwinkel) erfuhren. So könnte sie auch auf die Krise hinweisen, in die die bisher geglaubte Ganzheit oder fest gefügte Identität des Individuums, die „in sich ruhende“ bürgerliche Ich-Bezogenheit geraten sollte. Der fiktive Report beginnt mit der morgendlichen Hast des Berliner Intellektuellen Eloesser zum Treffpunkt mit dem Provinzler. Da in Zeitbedrängnis, muss der Berliner ärgerlicherweise seinen gewohnten Besuch eines kleinen Ladens unterlassen. Der kurze Gang zur Stadtbahn hat ihn zu sehr beschäftigt, führte ihn zwischen zwei Dutzend Häusern hindurch „durch eine Doppelreihe von stummen Beziehungen, von kleinen Szenen“, die „so flüchtig und so schwer faßbar sind, daß ein künftiger Dramatiker sie in einer Zeit des vollendeten Impressionismus gewiß darstellen wird“, denn die Straße hebe „unser Selbst“ fast auf.255 Das Schritttempo erhöhe sich, so Eloesser, denn er müsse den nächsten Zug erreichen. Er sei immer für die Stadtbahn, im Unterschied zur U-Bahn. Wenn „ich zur Untergrundbahn hinabsause, ist mein Zug immer schon fort“. Die Liebhaber der Hoch- und Untergrundbahn seien die ausgesprochen modernen, versachlichten Menschen, ganz ohne das Widerstreben, „das ich als ehemaliges in die Vorzeit von Omnibus und Kremser gesetztes Naturkind immer wieder zu überwinden habe.“ Sie „setzen sich einer stets gleichen künstlichen Luft aus, die vom Wechsel des Wetters und der Tageszeit gar keine Stimmung und Farbe mehr empfängt. Nur noch um die Schnelligkeit in ihrer verdünnten Abstraktheit zu empfinden; dem Briefe in der Rohrpost dürfte nicht sachlicher zumute sein. Ein Automat schluckt dich am Zoo ein und speit dich am Alexanderplatz wieder aus.“ Die Elektrische (Straßenbahn) sei da von anderer Natur. Sie gehöre dem Neugierigen, der auf Unterhaltung durch Beförderung, durch die Straße selbst, durch die Schaufenster nicht verzichten wolle. Wie es in zeitgenössischen Artikeln hieß, sei die Elektrische ein generell beliebtes Kommunikationsmittel, besonders aber Eckplätze, von denen aus man simultan wechselnde Bilder wahrnehmen konnte, Geschehnisse, die vor einem Revue passieren. „Das elektrische Berlin“ und „Straßenbahnfilm“ tituliert, verglichen diese Artikel 1913 und 1914 die Straßenbahnfahrt, wohl genauer die Erfahrung ihrer Wahrnehmungsangebote und -zwänge mit dem Wechsel von Einstellungen und den Segmentierungen des Films. Der Berliner Verkehr dehne sich ins Riesenhafte, da niemand mehr Zeit und Lust zum Gehen habe. Rund ein Fünftel des Tages sitze der Berliner in einem Verkehrsmittel.

Schließlich trifft der Berliner den Provinzler und sie hasten zum Boulevard Unter den Linden. „Sie retten sich mühsam durch ein Gewühl von Fußgängern, Radfahrern, Lastwagen, Automobilen, Omnibussen und Straßenbahnen.“ Der Berliner belehrt den Provinzler, wie man in dem kaum zu durchdringenden Verkehrsknäuel die Fahrbahn möglicherweise überqueren könne. Er verliert den Provinzler aus den Augen, denn zum Potsdamer Platz, in der Leipziger Straße bewege sich schlecht gerechnet eine Million Menschen auf ziemlich schmalen Bürgersteigen, und die Mitte des Weges nehme eine Wagenburg ein, „die sich ruckartig vorwärtsbewegt“. Wo eine Straße die große Ader kreuzt, staue es sich zu „undurchdringlichen Massen auf, zwischen denen einige Tollkühne auf Gefahr ihres Lebens durchschlüpfen. Dann schwingt ein bärbeißiger Riese nach einem unmelodischen Trompetenstoß und einem schrillen Pfiff die Hand und sogleich erschüttet sich die Masse, geht zum Sprung vorwärts, um ein paar hundert Meter weiter wieder zur unfreiwilligen Ruhe zu kommen.“ Wie solle er den Provinzler finden in dem Durcheinander unterschiedlicher Bewegungsarten und Rhythmen, „in den so vielfältigen visuellen, akustischen und motorischen sinnlichen Eindrücken, die permanent simultan auf einen eindrängen?“256

In der Bewegung seiner Bilder und schnell wechselnde Blickwinkel vorstellend, so vom Zuschauer raschen Perspektivwechsel fordernd, drängte besonders der Film mit seinen theatralen Darstellungen die Dynamisierung der Welt in die Wahrnehmung. Er war/ist gleichsam visualisierte Dynamik, beschleunigte Geschwindigkeit in sich. Das erste Ausdrucksmittel, so Kurt Pinthus 1913 in seinem KINOBUCH, sei „das unbegrenzte Milieu. Das Geschehen kann sich abspielen im Paradies, auf den Schneefeldern des Himalaya, in einer Spelunke, auf dem orkanzerwühlten Ozean.“ Das zweite Ausdrucksmittel sei Bewegung, „Bewegung als Geste und Tempo“.257 Arthur Holitscher verglich 1911 auf seiner Rundreise durch die USA in Chicago den „Wirbelsturm von Menschen“, in den er hineingetrieben wurde, mit den „zappelnden Bewegungen, die die Menschen in Kinematographenaufnahmen bekommen“ und sah „das Dahinfegen der Filmautomobile“ hier in Natur übertragen.258 Egon Friedell, den man 1913 als Eröffnungsredner für einen neuen Berliner Filmpalast engagierte, begann seine Rede mit der Entschuldigung, dass er in drei Dimensionen erscheine, „denn die dritte Dimension scheint ja jetzt langsam im Theater aus der Mode zu kommen“. Das Kino sei der prägnanteste Ausdruck der Zeit. Berlin habe die „Aufgabe, ein Zentrum der modernen Zivilisation zu sein. Berlin ist eine wundervolle moderne Maschinenhalle, ein riesiger Elektromotor, der mit unglaublicher Präzision, Energie und Geschwindigkeit eine Fülle von mechanischen Arbeitsleistungen vollbringt. Es ist wahr, diese Maschine hat vorläufig noch keine Seele. Berlin hat vielleicht selber nur das Leben eines Kinematographentheaters, eines virtuos konstruierten ‚homme machine‘“. Berlin befinde sich in den Flegeljahren einer kommenden Kultur, die „wir noch nicht kennen“. Kino habe – ähnlich der kurzen Postkarte – etwas Skizzenhaftes, Abruptes, Lückenhaftes, Fragmentarisches. Die Erkenntnis der Schönheit des Fragments beginne sich allmählich in allen Künsten Bahn zu brechen.259 Im Film wurde Zeit erstmals visualisierbar und damit manipulierbar – sie kann beschleunigt, angehalten, verlangsamt, sogar umgekehrt werden.260

 

252Zit. in: Wolfgang Schivelbusch: GESCHICHTE DER EISENBAHNREISE, Frankfurt/M./Berlin/Wien 1979, S. 59.

253Dolf Sternberger: PANORAMA ODER ANSICHTEN VOM 19. JAHRHUNDERT, Frankfurt/M. 1979, S. 46. Zu Wahrnehmungsveränderungen vgl. John Crary: TECHNIQUES OF THE OBSERVER. ON VISION AND MODERNITY IN THE NINETEENTH CENTURY, Cambridge, Mass./London, England 1991.

254Lewis Mumford: TECHNICS AND CIVILIZATION, New York 1934; Asa Briggs/Peter Burke: A SOCIAL HISTORY OF THE MEDIA. FROM GUTENBERG TO THE INTERNET, Cambridge/Oxford 2003, Kap. 4 u. 5 From Steam to Electricity, Processes and Patterns; Friedrich Kittler: GRAMMOPHON FILM TYPEWRITER, München 1985.

255Zit. in: Bernd Schmidt: DIE DYNAMISIERUNG DES KOMMUNIKATIONS- UND VERKEHRSRHYTHMUS ALS KULTURELLER MASSENPROZESS IN BERLIN 1880 – 1914 UND ASPEKTE SEINER RELEVANZ ZU DEN DARSTELLENDEN KÜNSTEN (Diss.), Berlin 1990, S. 119f.

256Zit. in: Schmidt: DIE DYNAMISIERUNG DES KOMMUNIKATIONS- UND VERKEHRSRHYTHMUS, S. 122 – 140. Vgl. Fiebach: „Audiovisuelle Medien, Warenhäuser und Theateravantgarde“, in: Erika Fischer-Lichte (Hg.): THEATER-AVANTGARDE, Tübingen 1995.

257Kurt Pinthus (Hg.): DAS KINOBUCH, Zürich 1963, S. 25f.

258Zit. in: Stefan Kolditz: FILM UND KULTURELLE KOMMUNIKATION. UNTERSUCHUNGEN ZUR VERÄNDERUNG DER WAHRNEHMUNGSWEISE AM MODELL DES DEUTSCHEN STUMMFILMS VON 1895 BIS 1913 (Diss.), Berlin 1990, S. 84.

259Egon Friedell: „Prolog vor dem Film“, in: Jörg Schweinitz (Hg.): PROLOG VOR DEM FILM. NACHDENKEN ÜBER EIN NEUES MEDIUM 1909 – 1914, Leipzig 1992, S. 201 – 204.

260Vgl. Mumford: TECHNICS AND CIVILIZATION, S. 342.

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