Berlin
Der Mensch spricht auf der Bühne
von Julius Hay
Erschienen in: Theater der Zeit: Stoff, Inhalt, Form (08/1946)
Assoziationen: Berlin
I.
Wenn der Autor eines Romans oder einer Erzählung von einer seiner Figuren etwas behauptet - z.B. "Paul war ein Feigling" -, so glaubt es ihm der Leser ohne weiteres. Der epische Autor ist für seinen Leser, so lange er dessen Vertrauen nicht mißbraucht, ein über jeden Zweifel erhabener Gewährsmann in allem, was die von ihm erdichteten Personen betrifft. Dem Zuschauer oder Leser eines Dramas hingegen steht kein solcher über jeden Zweifel erhabener Gewährsmann zur Verfügung. Wenn da Peter auf die Bühne kommt und sagt: "Paul, du bist ein Feigling", so wissen wir zunächst nicht recht, warum wir dem Peter mehr glauben sollten als dem Paul, der etwa behauptet, er selbst sei tapfer, und Peter sei ein Lügenmaul.
Folgt daraus, daß ein Satz auf der Bühne weniger Gewicht hat als im epischen Werk?
Weniger und doch auch mehr.
Weniger, weil die Glaubwürdigkeit der darin enthaltenen Aussage viel geringer ist, als käme der Satz unmittelbar vom Autor. Es wechseln doch auf der Bühne Wahrheiten, Lügen, Irrtümer, Gedanken, deren Vater der Wunsch ist, Mutmaßungen, Scherze, Bluffs usw., ohne daß der Autor von sich aus über ihren Wahrheitswert Aussagen machen würde. Und doch mehr, weil die Dialogsätze des Dramas dem Zuschauer über die...