Theater der Zeit

Magazin

Ödipus mit Umfrage

Der Showcase des georgischen Theaters am Rande vom Krieg in Tbilissi

von Thomas Irmer

Erschienen in: Theater der Zeit: Barbara Mundel – Stürzende Gegenwart (12/2022)

Assoziationen: Europa

Die georgische Erstaufführung von „Hamletmaschine“ in der Regie von Zurab Getsadze.
Die georgische Erstaufführung von „Hamletmaschine“ in der Regie von Zurab Getsadze.Foto: ZUKAO

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Sie waren bei der Ankunft in Tblissi in der letzten Septemberwoche nicht zu übersehen, junge russische Männer, die ihre gelungene Flucht vor der Einberufung zum Kriegsdienst schnell mal mit einer Flasche Wodka auf der Straße feierten. Vor ihnen waren schon die mit den hochpreisigen SUVs aus Russland gekommen, die überall in der georgischen Hauptstadt am Straßenrand zu sehen sind. Mit denen floh auch Geld, das nun auf den Wohnungsmarkt der Stadt mit einer Million Einwohner:innen drückt. Die Stimmung ist angespannt, Graffiti dazu gibt es auch auf Englisch an den Hauswänden der Innenstadt: „No Russians Welcome, Good or Bad.“

Der Krieg ist präsent, auch weil er mit der Abspaltung Abchasiens an der Schwarzmeerküste und dem Krieg in Südossetien im Jahr 2008 in Georgien nie ganz verschwunden war und nun mit der Explosion des ehemaligen Imperiums bis zu den gesellig weitertafelnden Bewohner:innen der Hauptstadt heranreicht. Vor jeder Theatervorstellung gibt es eine Tonbandansage, dass etwa 20 Prozent des georgischen Staatsterritoriums noch immer besetzt sind. Sie wirkt nicht unbedingt aufrüttelnd oder agitierend, eher wie eine allgemeine amtliche Durchsage, die aber doch daran erinnern möchte, dass alles, was man auf der Bühne sieht, nicht vergessen lassen sollte, was draußen passiert. Und jetzt noch passieren könnte.

Vor 14 Jahren wurde der Showcase eingerichtet, um einem internationalen Publikum aus Kritiker:innen, Theaterexpert:innen und Festival-Scouts das Beste vom georgischen Theater zu zeigen und damit auch der einen oder anderen Inszenierung zu inter­nationaler Bekanntheit zu verhelfen. Diese fünfte Ausgabe, nach einer zweijährigen ­Corona-Pause zusammengestellt, wurde nicht juriert. Die Theater, die allermeisten aus der Hauptstadt, konnten ihren Beitrag zu den insgesamt 35 Produktionen selbst benennen, darunter eben auch Inszenierungen, die wegen der Pandemie vielleicht noch gar keine echte Chance beim Publikum hatten und zu selten gespielt wurden. Das Showcase-Programm ist in reguläre Publikumsvorstellungen eingebettet, die fast alle ausverkauft sind und von auffällig vielen jungen Leuten besucht werden. „Das ist bei uns nicht so ungewöhnlich“, sagt die Showcase-Direktorin Ekaterine Mazmiash­vili, die sich über den Besuch aus insgesamt 21 Ländern freut. Sogar eine Frau aus dem Oman ist dabei, die dort ein internationales Performance-Programm organisiert und dafür hier Ausschau hält. Aus Russland niemand, nur die jetzt in Berlin lebende Theaterkritikerin Marina Davydowa ist auch nach Tblissi gekommen. Sie ist selbstverständlich sehr willkommen.

Die Eröffnung im Foyer des Marjanishvili-Theaters, einem führenden Haus des Landes, zeugt von der großen Freude über den Anlass. Der Eröffnungsrummel sieht aber auch wie eine wild gewordene Messe aus, bei der jedes Theater an kleinen Tischen mit Pros­pekten, Plakaten und gleich in die Hand zu drückenden Eintrittskarten um Aufmerksamkeit buhlt, denn viele Vorstellungen des fünftägigen Programms sind nur einmal zu sehen und überlappen sich zeitlich mit anderen. Nach zwei Stunden geht man da fast wie betäubt raus, hat aber immerhin den ­Besuch der georgischen Erstaufführung von Heiner Müllers „Hamletmaschine“ geplant und möchte aus all den Programmangeboten unbedingt „Ödipus“ und eine „Medea“ nicht verpassen. Und man weiß auch, dass das Ganze über mindestens 15 verschiedene Spielorte in der Stadt verstreut ist.

Das Royal District Theatre wird von dem auch in Deutschland bekannten Regisseur Data Tavadze geleitet. Der 33-Jährige ist inzwischen der junge Theaterbotschafter des Landes, nachdem einige ältere Meister wie Robert Sturua georgische Regiekunst noch zu Sowjetzeiten auch nach Westeuropa gebracht hatten. Tavadze hat die „Medea“-Version seines Kollegen Paata Tsikolia in den Showcase geschickt, die sich mit den familiären Konflikten kurz vor der Iason-Affäre und der anschließenden Argonauten-Rückfahrt auseinandersetzt. Die Perspektive in dem von Tsikolia geschriebenen und inszenierten Stück richtet sich auf Medeas Halbbruder Absyrtos, der nach einer älteren Version der Sage ihr erwachsener Geschwisterkonkurrent ist. Der Akzent liegt damit auf Kolchis und somit Georgien, wo es um die Rollen- und Machtverteilung in der jüngeren Generation geht – nicht nur zwischen Bruder und Schwester, sondern dabei, erkennbar aktualisiert, auch um Verbindungen nach anderswo. Die Inszenierung kommt mit Tanzelementen und ohne jede antike Folklore eher locker daher, die dramaturgische Grundidee dürfte der „Phädra“-Neudeutung durch Sarah Kane verwandt sein, auch mit der schmissig vulgären Sprache, die den englischen Untertiteln in dieser georgisierten „Medea“ noch zu entnehmen war.

Eine absolute Spezialität dürfte das Fingertheater von Besik Kupreishvili sein, eine Variante des Puppenspiels mit dafür kostümierten Fingern als Kleinstpuppen, die mit den Händen schwarzgewandeter Spieler auf einer Art Kasperlebühne zum Leben erwachen. Kupreishvili, ein kleiner, zurückhaltender Mann, der aber doch wie ein großer Schauspieler bei seiner kurzen Einleitung dazu wirkt, hat mit seinem in Georgien bewunderten Theater der artistischen Finger sogar ein selten aufgeführtes Kurzstück von Beckett im Repertoire. Nach dem Fingertheater-Varieté mit allerlei Fingerpuppenspäßen, die man im Stehen sieht, geht es auf die Kammerbühne des Marjanishvili für eine Aufführung von „Come and Go“, in dem drei auf einer Parkbank versammelte Frauen von Krankheit und Tod nur noch bruchstückhaft tuscheln. Der Regisseur hat zwei Frauen und einen Mann besetzt und lässt deren Gesichter durch Hüte weitgehend verdeckt – nur die Hände sprechen über den Text hinaus. Sachte erhoben, wieder verschlossen, ablehnend – das Fingertheater verlängert in eine Performance der Hände für Becketts Stück. Fantastisch, ganz im Sinne Becketts.

Heiner Müllers „Hamletmaschine“ wird dagegen in der Regie von Zurab Getsadze im großen Format auf der Bühne des Tumanishvili-Theaters geboten. Zu Beginn gibt es eine längere Choreografie des zehnköpfigen Ensembles, in der zu Post-Techno-Musik wechselnde Formationen zum Thema der Einzelne und die Gruppe zu erkennen sind. Nach dem Eröffnungsmonolog „Ich war Hamlet…“ springt die Inszenierung mit viel Nebel in die Geisterszene von Shakespeares „Hamlet“, ein Angebot der Regie für den Einstieg in Müllers komplex montierte Textwelten. In diesen wirkt der Hamlet-Darsteller wie ein verlorener junger Mann von heute, die Requisiten wie Kühlschrank und Fernseher folgen indes Müllers Regieanweisungen aus dem fast fünfzig Jahre alten Stück. Daraus erwächst eine eigentümliche Spannung – und wohl auch eine große Konzentration auf den Text als Hauptsinnträger, der nicht noch extra mit Gegenbildern interpretiert wird. Die Zertrümmerung der Ikonen des Kommunismus, Marx, Lenin und Mao, wird mit deren Gesichtern auf Bildschirmen gezeigt, die wiederum auf die Köpfe der Spieler:innen gesteckt sind, die dadurch selbst nicht sehen können – das stärkste Bild.

Für den Regisseur Zurab Getsadze ist die „Hamletmaschine“ Mission und Abenteuer zugleich. Vor zwanzig Jahren spielte er den Iason-Monolog „Landschaft mit Argonauten“ in der ersten georgischen Inszenierung von Müllers „Medea“-Trilogie. Es war das Erlebnis, dass man mit Theater eigentlich ganz woanders hinkommen müsste. Damals war der Einfluss der sowjetrussischen Tradition im georgischen Theater noch groß, und so wurde der Wunsch, die „Hamletmaschine“ zu inszenieren, Teil eines wichtigen Abstoßungsprozesses, nicht nur für ihn. Die Übersetzung stammt von Natia Mikeladze, die in den achtziger Jahren Germanistik in Leipzig studierte und heute neben der Arbeit an ihren mehrfach ausgezeichneten Übersetzungen aus dem Deutschen und Georgischen das Goethe-Institut im benachbarten Jerewan leitet.

Der heimliche Regiestar des Showcase war David Doiashvili mit zwei Klassikerinszenierungen auf der großen Bühne an dem von ihm geleiteten Neuen Theater Tblissi. Es fällt vor allem der Neuansatz für einzelne Figuren auf, die ein ganzes Stück anders sehen lassen können, wie etwa der Schriftsteller Trigorin in Tschechows „Möwe“, der hier nicht wie so oft als karikierter Schnösel oder blasierter Großschriftsteller gezeigt wird, sondern als einer, der trotz Erfolg tragisch verzweifelt ist. Damit bewegt Doiashvili den bekannten Alt-Neu-Kunstdiskurs des Stücks in eine andere Sphäre mit der Frage, was Kunst überhaupt noch bewirken kann. Alle Register der Theaterkunst zieht er indes bei seiner multimedial aufgerüsteten Version von „Oedipus Tyrannos“. Hier wird der aktuelle gesellschaftliche Kontext in die Inszenierung gleich direkt mit einbezogen, wenn etwa die Figur eines Journalisten mit Live-Kamera durch die Zuschauerreihen mit der Frage geht: „Was ist schlimmer, der Krieg oder die Pandemie?“ Danach steuern Ödipus und Iokaste auf ihr Finale zu: Die Selbstblendung wird filmrealistisch auf Großbildschirmen gezeigt, während der Ödipus-Darsteller hinter diesen verschwindet. Es ist wie bei der „Hamletmaschine“ immer auch ein Spiel mit verschiedenen Illusionstechniken, aber sehr ernst. Die letzte Umfrage des Abends lautet: „Haben Sie Ihr Schicksal in der Hand?“ //

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